Sam Smith entlarvt mit Video toxische Doppelmoral
Da tanzt jemand aufreizend in einer glitzernden Korsage, mit nur winzigen Pasties auf den Nippeln. Die Heels sind hoch, der Champagner spritzt. Sähe man das in einer Burlesque-Show von Dita Von Teese, fände man das sexy. Handelt es sich um Sam Smith in dessen Video zu «I'm Not Here To Make Friends», reagiert die Welt verstört. Wollten wir nicht eben noch total Sex- und Body-positive sein?
Sam Smith ist nicht da, um sich Freunde zu machen. Wenn Smith in einem englischen Schloss einen Kronleuchter reiten will, dann tut Smith das. Wenn Sam auf einem fahrenden Auto gestrapst die Beine spreizen will, dann macht Sam auch das. «I need a lover», singt der Popstar in «I'm Not Here To Make Friends» und betrauert dabei einerseits die Tatsache, nach Dates ständig ge-friend-zoned zu werden und führt uns andererseits die offengelebte Sexualität eines non-binären, queeren Künstlers durchaus bildgewaltig vor Augen.
Klar, das ist heiss. Vielleicht tropfts von der Schlossdecke. Aber ist das nicht das traditionellste Rezept fürs perfekte Pop-Video? Eine gut choreografierte Prise Exaltiertheit als glitzernde Streusel auf dem Empowerment-Kuchen?
Smith besitzt die Frechheit, queer und nicht dünn zu sein
Der Journalistin Alex Phillips beispielsweise scheint der Begriff Zeitgeist fremd zu sein. In der Show Good Morning Britain bezeichnete die das Musikvideo als «ungesund» für unsere Gesellschaft, es sei teilweise mit «extremer Hardcore-Pornografie» vergleichbar. Sie wünscht Altersbeschränkungen für YouTube-Videos. Weitere Konservative warfen Smith vor, «Sexualität wie ein Kostüm zu tragen und sie jedem unter die Nase zu reiben.» Genau hier liegt das toxische Paradox begraben: Smith, als non-binär und queer geoutet, macht diese Videos, um sich eben nicht mehr unter einem gesellschaftskonformen Schleier verstecken zu müssen. Um der Welt zu zeigen, was möglich ist. Was AUCH normal ist.
Die eigene Identität öffentlich zu machen, habe sich angefühlt wie Ankommen. Gegenüber James Corden erklärte Smith in The Late Late Show: «Es ist definitiv anstrengender, als ich erwartet hatte, aber ich fühle mich wohl in meiner Haut, und das ist der Preis und das Wunderbare daran.» Sam Smith will weder männlich noch weiblich gelesen werden, was auch der Grund ist, warum in diesem Text statt der Pronomen «er» und «ihr» immer von Sam, Smith oder Sam Smith die Rede ist. Auf offener Strasse angespuckt habe man Smith. Was zeigt: der Weg zu Akzeptanz ist ein langer. Gegangen wird der aber nicht, indem man sich unterwirft.
Fakt ist ja: Wäre Smith dünn und cis, wäre die unverhohlene Zurschaustellung von Sexualität wahrscheinlich schlichtweg unbemerkt geblieben. «I'm Not Here To Make Friends» wäre eins von vielen Videos. Trüge ein Mann mit austrainiertem Torso einen Leder-Slip – man könnte damit leben. So Sex- und Body-positive die Welt sich auch geben mag, es scheint eine Grenze zu geben: die der Attraktivität. Menschen, die nicht der Norm entsprechen, sollen sich weder ausziehen noch ein Privatleben haben. Pardon: ein Sexleben dürfen sie haben – bitte einfach privat.
Thirty almost got me and I'm so over love songs
So ist es vermutlich kein Zufall, dass zu weiteren Künstler:innen, die in den letzten Jahren wegen vermeintlicher übersexualisierter Clips ähnlich kritisiert wurden, farbige queere Künstler:innen gehören. Da wäre Lil Nas X, ausserdem Cardi B und Megan Thee Stallion mit «WAP». Gerade eh alles hinter sich lassend, trägt Sam Smith die Kontroverse mit Fassung. «Thirty almost got me and I'm so over love songs, yeah», singt Smith in «I'm Not Here To Make Friends» und weist noch einmal deutlich darauf hin, dass die Zeit der traurigen Schmachtfetzen mit 30 Jahren der Vergangenheit angehören. Das Tempo auf dem neuen Album «Gloria» ist höher, Smith tanzt als eben der Mensch durch die Welt, der Smith sein will. Auch wenn sein nackter, sehnsüchtiger Körper zur Lieblingsheadline führte, wie er in der Graham Norton Show scherzt: «Sam Smith versetzt OAPs [britischer Slang für 'Rentner'] in Schrecken».
Der aktuelle Hype ist ein neuer alter
«I'm Not Here To Make Friends» ist dabei nur ein Folgehit: Das Duett «Unholy» mit der Transgender-Sängerin Kim Petras ist eine Hymne gegen (christliche) Doppelmoral und für die Gender-Grenzen überwindende körperliche Liebe. «Mummy don't know daddy's getting hot / At the body shop, doing something unholy / He's sat back while she's dropping it, she be popping it / Yeah, she put it down slowly.» Auf der ganzen Welt sang man 2022 diese Zeilen. Weil die ganze Welt ein schweinischer Sündenpfuhl sein will und sich eben oft hinter Moralfassaden versteckt.
Sich dafür ausgezogen haben sich schon viele. Horny waren diverse. Man denke nur ans Video zu «Relax» von Frankie Goes to Hollywood, dessen Text ein heiterer Reigen sexueller Anspielungen ist, das in einem schwulen Nachtclub gedreht wurde und die Bandmitglieder umgeben von in Leder gekleideten, muskulösen Männern zeigt. Drum bitte abregen. Sam Smith ist nur ein endlich glückliches Wesen, das sich mag. Nicht der Teufel mit Nipple Tassles.
Übrigens: Sam Smith kommt am 16. Mai ins Zürcher Hallenstadion:
Infos zur Ticketlage gibt es hier.