Veröffentlicht am 30. Mai 2022

Liebe Labels, TikTok ist nicht alles!

Immer mehr namhafte Künstler:innen wie Florence + the Machine oder FKA Twigs äussern ihren Frust über TikTok. Zuletzt sagte Halsey, sie müsse einen «viral moment on tiktok» faken, bevor das Label ihren neuen Song veröffentlicht.

Journalist
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Es ist ein typischer Pop-Banger, wie man ihn von Halsey erwartet. Schillernde Synths, Beats zwischen Euphorie und Einkehr, die tolle, dezent digital verfremdete Stimme dieser weltbekannten Künstlerin und eine Hookline, für die so mancher Act töten würde. Während diese Musik läuft, schaut Halsey genervt in die Kamera ihres Smartphones, das gerade für TikTok filmt. Darüber schreibt sie in Englisch: «Ich bin seit über acht Jahren in dieser Branche und habe über 165 Millionen Platten verkauft und meine Plattenfirma sagt mir, sie können diesen Song nicht veröffentlichen, bevor wir einen ‚viral moment‘ bei TikTok faken. Alles ist Marketing. Sie machen das heutzutage mit allen Künstler:innen. Ich will doch nur Musik veröffentlichen, Mann! Ich habe ehrlich gesagt Besseres verdient.»

Auf TikTok gegen TikTok

Das – ironischerweise über TikTok verbreitete – Statement von Halsey gegen ihr Label Capitol Records wirft ein ungutes Bild auf eine Entwicklung, die immer mehr namhafte, etablierte Künstler:innen ziemlich ankotzt. Da TikTok nach wie vor ein extremer Reichweitenverstärker sein kann, verlangen viele Labels von ihren Künstler:innen, regelmässig Content oder Challenges für TikTok zu produzieren. Damit man dort gesehen wird, muss man allerdings eine regelmässige und recht hohe Schlagzahl an den Tag legen. Hinzu kommt, dass TikTok eine bestimmte «low-fi»-Ästhetik bevorzugt, die auch nicht zu allen Künstler:innen passt. So schrieb zum Beispiel Florence Welch von Florence + the Machine kürzlich «Das Label bettelt mich an, ‚low fi tik toks‘ zu machen.» Dazu seufzte sie laut in die Kamera und schrieb ‚Hilfe!‘ mit einem Totenkopf-Emoji, bevor sie augenscheinlich genervt einen ihrer Songs a capella ansang. Der satirische Instagram-Account «Saint Hoax» hat einige der Reaktionen von Künstler:innen in dieser Galerie sehr bissig kompiliert und mit eigenem Meme-Content ergänzt:

TikTok als Quälerei

FKA Twigs wiederum repostete einen TikToker, der erklärte, man müsse «4 oder 5 TikToks pro Tag» posten, damit man viral geht und schrieb dann über eine Aufnahme, dass sie von ihrem Label gerügt wurde, nicht genug Output bei TikTok zu liefern. Und dann gab es da noch Charli XCX, die sich für TikTok zu einem TikTok quälte – über die Quälerei, TikToks machen zu müssen.

All diese Kommentare sorgten nicht nur bei TikTok für einen ziemlich Wirbel. Man könnte also sagen: Man bekam den viralen Moment, den die Labels wollten. Allerdings auf eine Weise, die diese Labels vermutlich nicht wollten. Vielleicht sorgen all diese Kommentare von namhaften Künstler:innen aber endlich mal für ein bisschen mehr Differenzierung und für einen kritischeren Blick auf TikTok. So kurzweilig, unterhaltsam und reichweitenstark diese Plattform auch sein mag – jede:r Künstler:in sollte selbst entscheiden, wie präsent man dort auftritt. TikTok-Humor und -Ästhetik sind speziell – und nicht jeder findet sich dort wieder. Es fällt schon auf, dass die hier genannten Künstler:innen allesamt anspruchsvolle Konzepte in Sachen Musik und Ästhetik bevorzugen. Florence Welch zu einem «lo fi TikTok» zu zwingen, erscheint da reichlich behämmert.

Andererseits ist TikTok natürlich ein perfektes Marketing-Tool für neue Musik – wenn man es entsprechend nutzt und sich eben auf das Content-Dauerfeuer einlässt, das von dieser Plattform gepusht wird. Ausserdem ist es ein grosser Vorzug, wenn man wie Halsey bei einem grossen Major-Label ist, dass viel Hirnschmalz, Geld und Wissen in digitale Vermarktungs-Strategien investiert. Dass man dort auf TikTok setzt, ist also schon verständlich. Wobei es auch hier wie die billigste Variante erscheint, den eigenen Act zu neuem Content zu drängen – auf diese Weise wird schliesslich ein entscheidender Teil des Marketings outgesourct und eine etablierte Künstlerin wie Halsey oder Charli muss sich in einem Umfeld behaupten, in dem trashige, lustige Videos von Privatpersonen ähnliche Chancen haben.

Wieviel bezahlt TikTok eigentlich für den Musikeinsatz?

Bleibt noch die Frage, ob ein viraler TikTok-Hype dem jeweiligen Act überhaupt etwas einbringt. Es gibt natürlich Karrieren wie jene von Lil Nas X, die durch den TikTok-Hype um «Old Town Road» und seine wirklich unterhaltsame Präsenz dort massiv befeuert wurde. Oft strahlt diese Reichweite auch auf Plattformen wie Spotify oder Apple Music ab, wo die Künstler:innen entsprechend vergütet werden. TikTok selbst aber hat noch nicht offengelegt, wie viel Geld die Acts für die verwendeten Song-Schnippsel bekommen. Man hat wohl mit den Labels entsprechende Verträge abgeschlossen, die laut dem Entertainment-Anwalt Kurt Dahl einen «proportionate share of TikTok's subscription revenue» bekommen, die dann wiederum anteilig an die Künstler:innen vergütet werden. Das Onlinemagazin Music Gateway schätzte nach Recherchen im Jahr 2020 den Betrag auf ungefähr 0,03 US-Dollar pro Video. Wenn also 10.000 Menschen einen Song nutzen, verdient man als Künstler:in 300 US-Dollar.

Domiziana setzte für ihren ersten Song «Ohne Benzin» bewusst auf TikTok – und hat (dort) großen Erfolg

TikTok als Push für den Karriere-Start

Viele jüngere Künstler:innen wiederum profitieren von TikTok und kickstarten dort ihre Karriere. Aus dem deutschsprachigen Pop ist hier zum Beispiel die in Berlin lebende Domiziana zu nennen. Ihr Track «Ohne Benzin» hat sich vor allem unter jungen User:innen zu einem viralen Hit entwickelt. Das liegt nicht nur an der Catchiness und der Qualität des Songs, sondern auch an der Kondition von Domiziana, fast jeden Tag ein neues TikTok-Video rauszuhauen, von denen mindestens jedes zweite wieder diesen einen von ihr so erfolgreichen Song aufgreift. Selbst aus der Feststellung, dass viele User:innen ihr schreiben, sie könnten die Hook nicht mehr ertragen, machte sie einen ironischen Clip. Darin gab sie erst zu, dass ihr das manchmal auch so ginge – nur um dann grinsend die Hook noch einmal auszuspielen und einem damit schon wieder einen Ohrwurm zu verpassen. Domiziana kann mit diesem Erfolg im Rücken (ihre stärksten Clips stehen bei TikTok oft zwischen 500K und 700K Plays) ihren eigenen Marktwert steigern und ihre Verhandlungsposition für künftige Deals verbessern – vorausgesetzt, der Hype dort lässt sich auf andere Plattformen übertragen und führt zu vollen Konzerten. Was auch nicht unbedingt gesagt ist. Das hat auch Domiziana schon gemerkt – und natürlich zu einem TikTok gemacht:

TikTok ist wichtig – aber nicht für jede:n

Der richtige Weg sollte also für jeden Act individuell gefunden werden. Wie alle erfolgreichen Plattformen zuvor, ist auch TikTok zugleich Fluch und Segen und nur ein weiteres Kapitel im ständigen Kampf der Musiker:innen gegen die Mechanismen einer Branche, die das Wohl und den Kontostand der Kreativen nicht unbedingt an erster Stelle ihrer wirtschaftlichen Agenda stehen haben. Dass namhafte Künstlerinnen wie Halsey, FKA Twigs und Charli XCX dieses Thema offen ansprechen, kann zumindest dazu führen, dass man sich nicht nur dem schnellen aber ertragsarmen Zahlenrauschen von TikTok hingibt, sondern die Karriere des gesignten Acts nachhaltig und langfristig plant – mit einem Vermarktungskonzept, das zum Stil der Künstler:innen passt.

Halsey weiss übrigens immer noch nicht, ob der neue Song von ihr bald veröffentlicht wird. Sie schrieb vor einigen Tagen in einem Post, wie es im Hause Capitol Records weiterging. Nämlich so:

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