Veröffentlicht am 05. Juli 2022

Hinter den Kulissen und auf den Bühnen des 50. Roskilde Festivals

Wir waren beim 50. Jubiläum des dänischen Roskilde Festivals – eines der grössten und ältesten Festivals Europas, das seit Bestehen eine gemeinnützige Ausrichtung hat. Wir erklären, wie das funktioniert und zeigen tolle Fotos vom Festival.

Journalist
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Schweren Herzens liess unser Autor das OpenAir St. Gallen ausfallen und schaute stattdessen beim 50. Jubiläum des Roskilde Festivals vorbei – eines der grössten und ältesten Festivals Europas. In den 80er- und 90er-Jahren musste man im deutschsprachigen Raum kaum einem Musikfan erklären, was das Roskilde Festival ist, oder wo die dänische Gemeinde liegt, die ihm den Namen gab (gut 20 Zugminuten von Kopenhagen entfernt). Während die Schweiz mit dem OpenAir St. Gallen, das Ende der 70er startete, schon ganz gut aufgestellt war, reiste man in Mittel- und Norddeutschland nach Roskilde, um Grössen wie U2, Lou Reed, Metallica, Leonard Cohen, Iggy Pop oder Sonic Youth zu sehen. Das änderte sich so langsam, als auch die deutsche Festivallandschaft aufblühte und im Norden das Hurricane Festival etablierte. Was übrigens auch die Veranstalter:innen schade finden. Kamen damals bisweilen zehntausende Fans aus dem Ausland, wurde das Roskilde auch in Dänemark immer beliebter. Für viele Abschlussklassen ist es eine Tradition, dort zu zelten und über die insgesamt acht Festivaltage zu bleiben. Die ersten vier gelten als «Warm up» und werden ausschliesslich auf den Campingplätzen und vor einigen kleineren Bühnen dort zelebriert, die letzten vier Tage werden dann mit einem erstaunlich abenteuerfreudigen und diversen Line-up bespielt, das immer noch einige der grössten und teuersten Live-Acts auf die Bühnen bringt. Wer sich mit grosser Partyfreude und einer gewissen Neugier in dieses Festival wirft, das jedes Jahr rund 120.000 Menschen auf dem Festivalgelände versammelt, findet also alles, was man von einem Festival dieser Grössenordnung erwartet. Aber eben noch eine ganze Menge mehr – wenn man hinter die Kulissen blickt.

«Non-Profit since 1972»

Das Festival wirbt seit Jahren sehr dezent mit dem Slogan «Non-Profit since 1972». Was ein erstaunlicher Fakt ist, wenn man bedenkt, dass das Roskilde eben auch ein etablierter Big Player der Festivalwelt ist und Acts auf die Bühnen stellt, die amtliche Konzertgagen verlangen dürften. In diesem Jahr zum Beispiel: Dua Lipa, Megan Thee Stallion, St. Vincent, Haim, Tyler, The Creator und Post Malone. Aber dahinter steht eben kein kommerziell ausgerichtetes Firmenkonstrukt. Die Ursprünge des Roskilde liegen in der seit den 30ern aktiven lokalen Organisation Foreningen Roskildefonden, die sich in der Umgebung von Roskilde dafür einsetzte, Kindern und Jugendlichen Kultur, Sport und Bildung zu ermöglichen. Das führt zur grossen Besonderheit des Festivals, die Mads Mikkelsen, Leiter für Kommunikation und Marketing (und NICHT Schauspieler), in einem Pressegespräch mit uns fast nebenbei zur Sprache brachte: «Niemand von uns verdient Geld.» Roskilde wird von einem Verein betrieben, der weiterhin in der Satzung stehen hat, jungen Menschen Kultur und Musik nahezubringen. Zwar hat der Verein ein paar Angestellte, die das ganze Jahr über jeden Tag für das Festival arbeiten, aber selbst der technische Leiter der recht legendären «Orange Stage» (die übrigens 1987 den Rolling Stones nach einer Welttournee abgekauft wurde) zum Beispiel nimmt für das Festival seinen Jahresurlaub. Gleiches gilt aber auch für alle anderen Kräfte: Die Zapfer:innen kommen oft mit Sportvereinen oder Jugendorganisationen, die mit Essens-Ständen und Bars Geld für ihre Belange sammeln. Die ausgebildeten Securities werden verstärkt von tausenden Student:innen oder anderer Kids, die für ein paar Stunden Arbeit am Tag das Festival erleben können. Neben den knapp 90.000 zahlenden Gästen, kommen also noch zehntausende Volunteers dazu, die einen sehr grossen Einfluss auf den guten Vibe des Festivals haben.

Gewinne gehen an Projekte, die Musik und Kultur für junge Menschen fördert

Das Festival selbst verdient natürlich einen Haufen Geld, wenn alles gut geht, aber auch dieses Geld wird nach Abzug der Kosten und Reinvestitionen für das Folgejahr ausgeschüttet – an Kultur-Projekte sowie Jugend- und Hilfsorganisationen. Seit Bestehen des Festivals wurden auf diese Weise 407 Millionen Kronen verteilt – umgerechnet knapp 55 Millionen Euro. Wie das konkret aussehen kann, erlebten wir an zwei Beispielen: Mads Mikkelsen selbst wurde zum Beispiel durch eine Roskilde-Ausschüttung mit dem «Orange Feeling» (so lautet einer der langjährigen Slogans für das Festival, der den speziellen Vibe beschreiben soll) infiziert: «Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen und das Roskilde hat einen lokalen Musikclub unterstützt, damit er das ganze Jahr über Bands nach Roskilde bringen kann. Ich habe diesem Ort meine musikalische Sozialisation zu verdanken – und das weckte den Wunsch, mich hier zu organisieren.» Mikkelsen erklärt, dass sich das Roskilde in jedem Jahr sehr gut überlegt, wer an den Gewinnen teilhaben kann. Dabei setze man auf eine Mischung auf internationale Projekte und lokales Engagement. «Wir haben ja immer noch in unserer Satzung stehen, dass wir Kultur für junge Menschen fördern wollen und dieser Absatz bezieht sich schon auf Dänemark.»

Trotzdem gibt es auch internationale Projekte, die gefördert werden: Vor einigen Jahren, als Deutschland einen harten Rechtsdrall spürte und viele Rechtspopulisten gegen syrische Geflüchtete hetzten, spendeten das Roskilde an ein Projekt für Refugees in Nord-Deutschland. Es war übrigens ebenso ein Jahr, in dem die dänische Regierung ihren Umgang mit Geflüchteten massiv verschärfte. Schon eine Message, aber wie Mads Mikkelsen erklärt: «Wir tun das nicht, um die Regierung blosszustellen oder so. Wir schauen in jedem Jahr, was gerade die drängenden gesellschaftlichen Themen sind – und das war in dem Jahr eben der Umgang mit Geflüchteten.»

Ein weiteres Beispiel der Förderung konnte man beim Gig des Africa Express live hören: Das von Damon Albarn mit initiierte Kollektiv, das westliche und afrikanische Musiker:innen zusammenbringt, spielt regelmässig auf dem Roskilde. Beim Gig in diesem Jahr wurde in einer Ansage erzählt, dass Roskilde gezielt afrikanische Musikprojekte unterstützt und zum Beispiel der Tuareg-Band Imarhan half, das erste Musikstudio im südalgerischen Tamanrasset am Rande der Sahara zu bauen und zu finanzieren.

Nachhaltigkeit im Fokus

Eines dieser «drängenden gesellschaftlichen Themen» in diesen Jahren ist natürlich das der Nachhaltigkeit. Auf dem gesamten Gelände sieht man, wie ernst das Thema genommen wird. Es gibt Workshops und Vorträge in bestimmten Arealen, es gibt einen «Green Design Market» und ein Areal auf dem Campinggelände, auf dem sich junge, nachhaltig orientierte Start-ups präsentieren können – wie zum Beispiel Vaer, die Upcycling Sneakers verkaufen, die zum Beispiel aus den Überresten von Jeanshosen oder Zeltplanen gemacht werden. Sanne Stephansen, Head of Sustainability des Roskilde Festivals, sagte uns aber: «Wir wollen unsere Themen den Besucher:innen nicht aufdrängen, sondern eher spielerisch und positiv vermitteln: Wenn auch nur einer mit neuen, guten Gedanken nach Hause fährt, ist doch schon viel gewonnen.» In dieser Philosophie stehen auch die schon seit Jahren etablierten Camping-Areale wie «Clean Out Loud»: Hier können sich Gruppen mit guten Nachhaltigkeits-Ideen bewerben und der komplette Campingplatz steht unter der Philosophie, keinen Müll zu hinterlassen. Das ist dort dermassen verankert, dass die Camps untereinander jeden Tag das sauberste Camp krönen – und die Gewinner:innen mit diversen Saufspielen feiern. Diese Areale sind sehr begehrt, weil sie günstig liegen – wer nachhaltig denkt, darf also durchaus ein wenig privilegierter Feiern und wird belohnt für sein Handeln. Sanne Stephansen erklärt ausserdem: «Das Festivalgelände ist ja ein etablierter und extra dafür ausgelegter Ort in der Stadtstruktur – das bringt ein paar Nachteile aber auch viele Vorteile mit sich. Es macht es uns einfacher, das System in jedem Jahr ein wenig neu zu justieren.» So habe man in diesem Jahr auf den Prüfstein gestellt, wer die immensen Energiemengen liefert, die man natürlich als Grossfestival verbraucht: «Dänemark ist ein Land, das zu einem sehr grossen Teil auf erneuerbare Energien setzt. Deshalb sind wir in diesem Jahr mit dem Festival stärker an das reguläre Strom-Netz gegangen und haben keine Generatoren mehr auf dem Gelände.» Auch die Campingplätze stehen weiterhin im Fokus: «Das grösste Problem bei allen Festivals ist immer noch das Camping-Material. Viele reisen mit sehr billigen Zelten an und, sagen wir mal so, ‚vergessen‘ sie dann wieder mitzunehmen.» Um dem entgegenzuwirken, hat Roskilde einen durchaus bezahlbaren Service angeboten: Man kann sich die wichtigsten Elemente wie Zelt und Pavillons leihen. «Bei den Pavillons war die Nachfrage am grössten – aber wir haben ungefähr 17.000 Zelten vermieten können. Das ist für den Anfang doch schon gar nicht schlecht.»

Kooperationen mit Hochschulen bei Kernthemen

Darüber hinaus sucht man die direkte Zusammenarbeit mit Hochschulen, die sich dem Thema widmen. Auf dem Campingplatz trafen wir zum Beispiel drei Studentinnen des Studienganges «Sustainable Design», die in einem gut platzieren Areal ihre Projekte vorstellen. In diesem Fall ein erstaunlich robuster Camping-Stuhl aus Pappkartons namens «Pappi». «Wir haben das Modell für unsere besoffenen Freund:innen designt», erklärt man uns. «Er hält also tatsächlich eine Menge aus.» Regen sei ein Problem auf Dauer – aber man könne einzelne Teile austauschen in einer Art «Flatrate»-Modell. Die Teilnahme an dem Contest beim Roskilde war übrigens eine offizielle Projektarbeit im Rahmen des Studienganges – die Gewinner:innen mussten dann natürlich keine Tickets kaufen.

Ein diverses, abenteuerfreudiges Line-up

Um die Musik soll es in diesem Text natürlich auch noch einmal gehen. Auch hier geht das Roskilde besondere Wege und beweist, dass man seinem Publikum durchaus neue Klänge und Regionen zugänglich machen kann. Einer der ersten Gigs im riesigen «Arena» Zelt wurde zum Beispiel von Anitta bestritten – eine der erfolgreichsten Musikerinnen Brasiliens, die man in Europa kaum auf dem Schirm hat. Am besten ist das Roskilde sowieso wenn man sich von der Neugier auf neue Musik treiben lässt: Dann landet man zum Beispiel in einer abgefahren Performance des kenianischen Grindcore-Industrial-Duos DUMA oder entdeckt japanischen Punkrock für sich. Das Booking beweist alle Jahre wieder, dass man seinen Besucher:innen viel mehr zutrauen kann, als die handelsübliche Line-up-Stangenwaren, die sich meist aus nationalen Indie-Bands und ein paar englischen oder amerikanischen Acts zusammensetzt. Zu dieser Erkenntnis kommt man übrigens nicht, weil das Festival ein eloquent formuliertes Diversity-Statement auf die Website gestellt hat oder eine Frau aus dem Team auf Interviewtour schickte, sondern weil einem am Abend des ersten Konzertags plötzlich feststellte, dass man einen Haufen geiler Konzerte und kaum weisse Dudes mit Bärten und Gitarren gesehen hat.

Ach ja, ein Jubiläum gab es ja auch noch

Ein ähnliches Understatement zeichnet auch der Umgang mit dem ja eigentlich ziemlich erstaunlichen 50. Jubiläum aus. Die Eintrittsbändchen waren zwar ein wenig edler und es gab eine Galerie mit den Line-up-Postern der Roskilde Historie, aber ansonsten war da nicht viel. Auch im Line-up suchte man Nostalgie vergeblich. Ebenso im so nüchtern wie genialen Slogan: «Fifty Times». Auch hier sagte uns Mads Mikkelsen: «Wir wollten vor allem Headliner, die ein junges Publikum ansprechen. Und wir wollen einfach in jedem Jahr irgendwo ein wenig besser werden. Das war auch in diesem Jahr so. Was wäre denn gewonnen, wenn wir jetzt über die Stränge schlagen, bloss weil wir ein rundes Jubiläum haben? Das würde ja heissen: das 51. wird nur halb so gut.» Recht hat er.

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