Veröffentlicht am 20. Juli 2022

«Die Entscheidung, nicht auf die Party zu gehen, ist auf jeden Fall eine Entscheidung gegen deine Karriere.»

25 Jahre in der Musikindustrie, u.a. als Tourmanager von The Roots, Booker von Bilderbuch und Agentur-Chef von Der Bomber der Herzen: Tim Böning arbeitete jahrelang nonstop. Erst beim dritten Klinikaufenthalt wird ihm klar, dass etwas nicht stimmt.

Journalist
Portrait Tim Böning

Triggerwarnung: In diesem Gespräch geht es um Alkoholsucht, Drogenmissbrauch und Misshandlung.

Das erste Mal, dass Tim Böning Musik richtig geniessen kann, unbeschwert tanzt und einen Bezug dazu spürt, ist mit 43 Jahren auf dem Fusion Festival (DE). Da wird ihm bewusst, dass er all die Jahre in einer Industrie gearbeitet hat, die ihm kaum etwas zurückgab. Ein Jahr später ist Schluss: der dritte Klinikaufenthalt dauert nicht wie geplant zwei Wochen, sondern über fünf Monate und signalisiert ihm endgültig, dass es so nicht weitergehen kann. Vor einem Jahr sorgte er mit diesem Gastbeitrag in der MusikWoche für viel Wirbel. Zum ersten Mal zeigte jemand, der selber jahrzehntelang Teil des Systems war, was in der Branche schiefläuft: unzählige Arbeitsstunden, lange Tage, längere Nächte, Alkohol, Drogen, schlechtes Essen und kaum Schlaf, fehlende Zuneigung und ein Druck, der kaum auszuhalten ist. Ein Job, wie Böning schreibt, der neben all den schönen Dingen «gefährlich für die Birne sein kann.» Wir sprechen mit ihm über das Leben auf Tour, eine unrealistische Romantisierung einer Branche, deren oberstes Ziel eine möglichst hohe Rendite ist und was sich heute ändern muss, damit der Musiksektor zukunftsfähig bleibt.

Tim Böning

Tim Böning wurde 1975 in Gütersloh (DE) geboren. Direkt nach dem Abi war er 1996 Tourmanager der Band Thumb. Zehn Jahre arbeitete er u.a. für Moderne Welt, die DEAG und die Marek Lieberberg Konzertagentur als Tourmanager und Accountant. Zwischen 2006 und 2010 war er Production Manager bei der Marek Lieberberg Konzertagentur in Berlin, bevor er 2010 die eigene Konzertagentur Der Bomber der Herzen gründete. 2013 folgt die Gründung der Silbermöven GmbH gemeinsam mit Peter Spindler, gleichzeitig war er von 2013 bis 2016 Geschäftsführer von Die Weberei in Gütersloh. Von 2015 bis 2018 war er als Artist Booking Specialist für Red Bull (DE/A) tätig. Mit dem Zusammenschluss von Der Bomber der Herzen und der Agentur Goodlive gab Böning 2018 die operative Führung ab. In seiner Karriere betreute er u.a. Künstler:innen wie Bilderbuch, Macklemore, Cari Cari oder Mavi Phoenix.

Mehr über Der Bomber der Herzen
Portrait Tim Böning

Starzone Studio: Krank zu sein oder sich einfach mal einen freien Tag nehmen ist in der Musikindustrie eher unüblich. Du hast unseren ersten Termin verschoben, weil es dir nicht gut ging. Hättest du vor ein paar Jahren einfach durchgezogen?

Tim Böning: Ich war tatsächlich so krank, dass es nicht ging. Ich erinnere mich aber an eine meiner ersten Touren, die ich mit 39 Grad Fieber und Mandelentzündung gemacht habe. Einfach, weil ich es machen musste. Krank zu sein stand gar nicht zur Debatte. Solange das Bein noch dran ist, habe ich alles gemacht. Alle waren so, krank zu sein, das existierte in der Branche einfach nicht. Heute sehe ich das anders.

Nach dem Motto: immer weiter, ohne Wenn und Aber?

Wenn du auf Tour bist und plötzlich ausfällst, fällt auch das Konzert aus. Und diese Frage stellte sich ja gar nicht. Es ist doch erstaunlich, wie wenig Konzerte generell abgesagt werden. Neben den Menschen auf der Bühne müssen auch im Hintergrund alle funktionieren. Je nachdem können das bis zu 200 Personen sein, die systemrelevant sind. Logischerweise gibt es viele, die krank zur Arbeit kommen.

«Die eigenen Bedürfnisse wie Schlaf, Essen, Nähe oder Zuneigung existieren in dem Moment nicht.»

Tim Böning, Der Bomber der Herzen
War Tourmanager dein Traumberuf? So romantisch es klingen mag, am Ende geht es darum, immer den Bedürfnissen fremder Menschen hinterherzurennen und diese zu stillen. Bleibt man selber nicht total auf der Strecke?

Für mich als traumatisiertes Kind war das wirklich so etwas wie ein Traumberuf. Ich war meine gesamte Kindheit darauf aus, die Wünsche und Befindlichkeiten von meinem Vater zu erkennen und darauf zu reagieren. Machte ich das nicht, hat er das entsprechend an mir ausgelassen. Insofern passte das natürlich. Ich habe das Monster, das mein Vater für mich war, durch andere Monster auf Tour ersetzt. Ich konnte auch böse Menschen glücklich machen. Du selber kommst zwar komplett zu kurz, aber das ist egal. Die eigenen Bedürfnisse wie Schlaf, Essen, Nähe oder Zuneigung existieren in dem Moment nicht. Oder man verkennt es komplett. Oder man ist zu betrunken und fällt einfach ins Bett.

Spielt man auch eine Art Rolle?

Klar, damit einher geht auch das ständige Romantisieren: der kokainsüchtige Sänger ist die Partygranate, der depressive Backliner ist das melancholische Genie – statt zu sagen, wie es ist, und zwar, dass einer kokainabhängig und der andere depressiv ist. Wenn ich Menschen von meinem Job erzähle, kriegen sie grosse leuchtende Augen und glauben mir nicht, dass es auch ein total einsamer, trauriger Beruf sein kann. Gleichzeitig muss ich unterstreichen, dass ich in all den Jahren unzählige schöne Erfahrungen und Bekanntschaften gemacht habe, die ich auf keinen Fall missen möchte.

In dieser Industrie gibt es wohl nichts Wichtigeres als das eigene Netzwerk. Damit du erfolgreich sein kannst, musst du die richtigen Leute kennen. Und das geschieht oft auf Partys, Festivals, Branchentreffen oder Konzerten. Hat sich das rückblickend für dich gelohnt?

Wie gesagt war das wohl eine Art Fügung. Die grosse Frage ist: macht die Musikbranche verrückte Menschen oder gehen verrückte Menschen in die Musikbranche. Bei mir war beides der Fall. Ich war schon verrückt (und das meine ich nicht despektierlich), entsprechend war ich sehr gut aufgehoben in diesem Wanderzirkus. Die Bewältigungsstrategien, die ich mir für meine Angststörungen, meine Depressionen und meine post-traumatischen Belastungsstörungen angeeignet hatte, wurden dort bedient: nicht bei mir sein, andere glücklich machen, ganz viel Alkohol trinken, viel rumwuseln und immer unter Strom sein. Wäre ich nicht in der Musik gelandet, wäre ich vielleicht Restaurant-Chef geworden. Als Töpferer oder Goldschmied wäre das nicht gegangen.

Du warst ja für eine kurze Zeit tatsächlich parallel zu allem auch noch Restaurantleiter in deiner Heimatstadt Gütersloh.

Ja, genau. Mit dem berühmten Bier, das nie zu Ende geht. Wenn man sich Bier selber zapfen kann, weiss man nie, wie viel man selber getrunken hat. Auf Tour ist das genauso. Du zählst die Biere nicht, weil überall Biere sind.

Vom Abi direkt auf Tour und seit 25 Jahren Teil der deutschen Musikindustrie: Tim Böning (Der Bomber der Herzen).  - Tim Böning
Vom Abi direkt auf Tour und seit 25 Jahren Teil der deutschen Musikindustrie: Tim Böning (Der Bomber der Herzen). - Tim Böning

Würdest du sagen, dass du auch immer mehr zu einer Person wurdest, die du gar nicht sein wolltest?

Ganz bestimmt, das wurde mir auch so kommuniziert, Die Ellenbogen gingen immer weiter nach oben. Mit der Agentur, aber auch mit der eigenen Überforderung und dem Fliehen vor dem eigenen Selbst wurde das extremer. Diese Verantwortung hat nicht unbedingt den guten Teil in mir gefördert.

Es gab auch eine Phase, wo du plötzlich sehr gesund gelebt hast und an gewissen Tagen bis zu zwei Mal im Bikram Yoga warst. Geht es nicht ohne diese Extreme?

Die Frage ist, ob es mir da gut ging oder nicht. Wie bei allem wäre ein gesundes Mass sicher nicht schlecht. Und ganz ehrlich, ich verdamme diesen Hedonismus der Branche ganz und gar nicht, das gehört dazu. Ich persönlich habe aber das Mass in Bezug auf das Arbeitspensum oder den Alkoholkonsum nicht gefunden. Viele meiner Kolleg:innen finden das Mass auch nicht und deshalb funktioniert das System so gut. Die Leute schaffen es, 90h zu arbeiten und zwei Mal am Tag Hot Yoga zu machen. Es ist eine Branche der Extreme, die extreme Menschen anzieht. Ich frage mich bis heute, wann oder wo es mir wirklich gut geht: besoffen in meinem Stammlokal, wo ich den Zampano raushänge und mich alle kennen, oder wenn ich alleine auf dem Land sitze und mir die Katze auf den Schoss springt. Vielleicht beides, Letzteres ist auf jeden Fall gesünder.

«Du kannst nicht nur halb auf Tour sein, das funktioniert nicht. Du kannst auch nicht nur 8h am Tag arbeiten. Oder als Alkoholiker nur ein Bier trinken.»

Tim Böning, Der Bomber der Herzen
Muss man sich denn für eines der beiden Extreme entscheiden?

Du kannst nicht nur halb auf Tour sein, das funktioniert nicht. Du kannst auch nicht nur 8h am Tag arbeiten. Oder als Alkoholiker nur ein Bier trinken. Sobald die eigenen regulierenden Mechanismen nicht mehr funktionieren, geht’s nicht mehr. Ich kann nicht mehr halb Der Bomber der Herzen sein. Das geht nur ganz oder gar nicht.

Wenn man sich öffentlich so vulnerabel zeigt wie du in deinem Beitrag, dann macht man sich angreifbar. Wie waren die Reaktionen?

Ich bin erstens ein Mann, zweitens alt und drittens weiss. Ich war in einer sehr privilegierten Position mich zu äussern. Am Ende war das vielleicht auch die Idee des Ganzen. Ich wollte sagen: Leute, hier stimmt was nicht, hört mal zu. Ich wollte mich aber auch ein Stück weit für mein Verhalten erklären und mich danach eigentlich aus dem Staub machen. Die Reaktionen waren aber so überwältigend und positiv, dass ich mich dazu entschlossen habe, weiter öffentlich darüber zu reden.

Wann hast du realisiert, dass du die Notbremse ziehen musst?

Für mich selber weiss ich das schon länger. Ich war lange Zeit in Therapie und insgesamt dreimal in der Klinik. Die ersten beiden Male wegen einer sehr extremen Angststörung und einem totalen Burnout. Weil dort am Abend Telefonverbot herrschte, faxte mir meine Kollegin die Emails. Das muss man sich mal vorstellen: Du sitzt in der psychosomatischen Klinik um dein Burnout zu heilen und bearbeitest parallel 25 Seiten E-Mails handschriftlich. Eine Heilung habe ich bis dahin also gar nie wirklich probiert. Richtig gecheckt habe ich es, als ich kurz vor der Pandemie in der Traumaklinik war und zum ersten Mal wirklich Stopp gemacht habe. Und zwar nicht nur zwei Wochen, sondern fünf Monate.

Von aussen lässt sich das leicht sagen, aber konntest du das nicht früher erkennen?

Gute Frage. Mir hat das ja nie so richtig Spass gemacht. Ich mochte keine Konzerte, weil Musik für mich immer mit Arbeit gefärbt war. Das erste Mal, dass ich Musik geniessen konnte, war als ich mit 43 Jahren auf der Fusion getanzt habe und endlich einen Bezug dazu spürte. Die Erkenntnis war eher ernüchternd, schliesslich habe ich all die Jahre in einer Branche gearbeitet, die mir nur wenig zurückgab. Ich brauchte diesen Moment, alles zu cutten und zu realisieren: What have I done?

War es immer nur ein Job für dich oder auch ein bisschen Erfüllung?

Ich hatte immer eine Leidenschaft für diverse, lustige Charaktere, weniger für die Musik. Und das war schon richtig toll, wen man da so traf. Es gibt wenige andere Branchen, die so vor Energie und Kreativität sprühen.

Hast du dir schon mal überlegt, wie viele Überstunden du in deinem Leben geleistet hast?

Überstunden gibt’s ja nicht. Das kann man nur machen, wenn man einen Arbeitsvertrag mit einer definierten Anzahl von Stunden hat. Und selbst dann: Wenn einer ausfällt, dann arbeitet der andere doppelt so viel. Das geht strukturell nicht anders. Aber auch, weil es die Leute mit sich machen lassen. Es gibt keinen Tarifvertrag oder geregelte Arbeitszeiten.

Ist die Branche einfach nicht für jede:n?

Meine Einschätzung ist leider die, dass du a) laut sein, b) männlich und c) saufen können musst. Und am Ende musst du auch Drogen nehmen können um den Deal um 6 Uhr in der Früh lallend an der Bar zu machen. Ich wehre mich ein bisschen dagegen, dass die Branche nicht für jede:n etwas ist. Aber Fakt ist: Die Entscheidung, abends nicht auf die Party zu gehen oder nicht mitzusaufen oder lustig zu sein ist auf jeden Fall eine Entscheidung gegen deine Karriere. Wenn sich daran nichts ändert oder die jungen Leute das Ruder übernehmen und dieses Spiel nicht mehr mitspielen – solange bleibt es schwierig. Und da hast du leider recht mit deiner Aussage.

Siehst du einen Generationenunterschied?

Beim Thema Konsum hat sich ganz viel verändert. Es wird nicht mehr so viel getrunken, dafür kannst du via Telegram jede Droge der Welt mit einem Klick bestellen. Die jüngere Generation ist gleichzeitig viel aufgeweckter. Sie trauen sich, die Probleme zu benennen und das stimmt mich ziemlich positiv.

«Trotzdem ist es legitim an einem bestimmten Punkt in seinem Leben gewisse Dinge grundlegend zu hinterfragen, Muster zu erkennen und diese versuchen aufzulösen statt zu reproduzieren.»

Tim Böning, Der Bomber der Herzen
Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis, über das Thema Mental Health zu sprechen. Doch ähnlich wie bei den Themen Diversität und Nachhaltigkeit klaffen Notwendigkeit und Realität oft noch weit auseinander. Wie siehst du das?

Ja klar, es muss noch ganz viel passieren. Deshalb sind solche Gespräche wie dieses so wichtig. Auch wenn wir dadurch zu Spielverderber:innen werden. Ausserdem warte ich nur darauf bis jemand kommt und sagt, dass ich der Schlimmste von allen war. Trotzdem ist es legitim an einem bestimmten Punkt in seinem Leben gewisse Dinge grundlegend zu hinterfragen, Muster zu erkennen und diese versuchen aufzulösen statt zu reproduzieren.

Was muss heute passieren, damit es in Zukunft besser wird? Gibt es «best practices»?

Es gibt Expert:innen, wie z.B. die Diplom-Psychologinnen Anne Löhr und Franziska Lauter, die sich viel besser mit den Themen auskennen als ich. In Deutschland gibt es z.B. den «MiM»-Verband, die zentrale Anlaufstelle zur Förderung der mentalen Gesundheit in der Musik- und Kreativbranche. Wir haben bei uns in der Firma Beratungsstellen mit der Möglichkeit, sich anonym zu melden. Es gibt die Angebote, aber es ist total schwierig, diese an die Leute zu bringen. Im Sinne von: Man weiss, wo man Hilfe kriegt, aber man weiss nicht, dass man Hilfe braucht. Und beim Thema Arbeitsbelastung und Rock’n’Roll wird’s wohl immer so bleiben. Die drei grössten Konzerne im Live-Entertainment-Bereich sind Aktiengesellschaften. Dort haben irgendwelche Fonds Anteile, und denen ist es egal, was da passiert. Die wollen eine Rendite sehen. Und das passt halt nicht in die vermeintlich romantische und emotionale Musikbranche.

Gibt es Aussicht auf Besserung?

Ja, davon bin ich fest überzeugt. Ich baue komplett auf die junge Generation mit ihrem frischen Mindset und dem Willen, etwas zu verändern. Nur dafür müssen die alten weissen Männer in den Chefetagen endlich Platz machen.

Gefällt dir der Artikel?