Veröffentlicht am 03. Juni 2022

«Wenn du hier erfolgreich sein willst, musst du dich ihren Spielregeln anpassen»

Weniger Geld, weniger Macht, weniger Anerkennung – auch abseits der Bühnen stehen Frauen im Musikbusiness oft hinten an. Wie es trotzdem gelingt, sich als Frau in dieser Industrie zu behaupten, zeigen die Karrieren von Anita Spahni und Lena Fischer.

Journalist
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Anita Spahni Lena Fischer Portraits

Sängerinnen bleiben in der Popmusik stark unterrepräsentiert, so das Ergebnis einer US-amerikanischen Studie. Dr. Stacy L. Smith und die «USC Annenberg Inclusion Initiative» haben in «Inclusion in the Recording Studio?» die Entwicklung der Musikbranche zwischen 2012 und 2020 genau analysiert. Die Untersuchung aller veröffentlichten «Billboard Hot 100» ergab: Frauen machten in dem Zeitraum durchschnittlich 21,6 Prozent der Hits aus. Zwischen 2013 und 2021 waren gerade mal 13,4 Prozent der Grammy-Nominierten weiblich, 86,6 Prozent waren Männer. Auch in der Schweiz sieht es für weibliche Künstler:innen nicht besser aus. Vor zwei Tagen übt die Sängerin Sophie Hunger auf Twitter starke Kritik am Line-Up des diesjährigen Moon & Stars Festival in Locarno. Dieses ist – von Hecht über Seeed bis zu Die Toten Hosen – zu 100 Prozent männlich besetzt:

Hinter den Kulissen zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Musikindustrie bleibt eine Branche, in der Frauen – gerade in wichtigen Schlüsselpositionen – eher selten sind. Die Schweizer Ableger der beiden grossen Major Labels Warner Music Group und Sony Music Entertainment bilden mit je einer weiblichen Managing Direktorin international die grosse Ausnahme. Wie divers sich die Musikindustrie hierzulande wirklich gestaltet und was geschehen muss, damit bestehende Strukturen aufgebrochen und mehr Frauen in Betracht gezogen werden, darüber reden wir mit Anita Spahni, CEO & Gründerin von INDIECOM sowie Head Of Promotion & Marketing International Labels bei Musikvertrieb AG und Lena Fischer, Leiterin Marketing & Kommunikation, Mediensprecherin, Bookerin und Mitglied der Geschäftsleitung beim Gurtenfestival.

Anita Spahni

Anita Spahni stand früher selber auf der Bühne – bis sie merkt, dass ihr die Arbeit mit und für andere Künstler:innen viel mehr Freude macht. Während ihrem Studium (MA Kommunikations-/Medienwissenschaften) sammelt sie erste berufliche Erfahrungen im Musikbusiness. Danach folgt ihre erste Festanstellung in der Promo-Abteilung von EMI Records. Nachdem das Major-Label von einem noch grösseren Player gekauft wird, entscheidet sie sich für die Selbstständigkeit und gründet die Musikagentur INDIECOM. Sie unterstützt Künstler:innen dabei, ihre Karrieren voranzutreiben, kümmert sich als Medienverantwortliche um das Zürich Openair und hat von Musikvertrieb ein fixes Mandat als Head of Promotion & Marketing. Anita ist ausserdem Mutter von zwei Kindern.

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Portrait Anita Spahni

Starzone Studio: Wie habt ihr den Einstieg in die Musikbranche geschafft und was ist seither passiert?

Anita Spahni: Früher stand ich selber auf der Bühne, später unterstützte ich lieber andere Künstler:innen bei ihrer PR- und Marketingarbeit. Am Anfang war das super schwierig, ich kannte praktisch niemanden und hatte nur wenige Kontakte. Während dem Studium habe ich sogar umsonst gearbeitet, einfach um mir ein Netzwerk aufzubauen. Erst danach und durch meinen Job bei EMI Records wurde ich in der Branche ernstgenommen und hatte plötzlich ein Standing. Davor existierte ich für die Industrie gar nicht. Als ich mich mit INDIECOM selbstständig gemacht habe, wurde ich endlich akzeptiert. Es dauerte nur ca. zehn Jahre (lacht).

Lena Fischer: Musik hat mich schon immer begleitet. Mein erstes Praktikum in der Kulturbranche absolvierte ich bei Sony Music. Nach kurzer Zeit erhielt ich eine Festanstellung und weil ich unsicher war, was ich studieren will, blieb ich dort und wurde nach ein paar Jahren Junior A&R. Weil ich nicht alles auf eine Karte setzen wollte und mir eine Ausbildung wichtig war, kündigte ich, nur um kurze Zeit später erneut in der Musikwelt zu landen. Seven hat mich mit seiner Firma redkey auf Mandatsbasis angestellt. Nebenbei war ich Projektleiterin bei Young Swiss und habe mit diversen anderen Künstler:innen gearbeitet. Die Arbeit bei redkey wurde immer mehr, und am Schluss war ich Teilhaberin und im Management-Team. Später bin ich dann zum Gurtenfestival gekommen und seit 2019 festangestellt.

«Bei sexistischen Sprüchen dachte ich zwar, dass das nicht normal sein kann, aber ich habe es trotzdem hingenommen.»

Anita Spahni

Ihr seid seit vielen Jahren in der Musikindustrie tätig. Was würdet ihr sagen, sind die grössten Herausforderungen, als Frau in diesem Business zu arbeiten? Und wie hat sich die Rolle der Frau in der Branche eurer Meinung über die Jahre verändert?

Anita: Was ich am Anfang gesagt habe: zuerst nimmt dich niemand ernst. Früher wurde ich oft wie ein kleines Mädchen behandelt, das irgendwie versucht, im Haifischbecken zu überleben. Ich wurde auch nicht als eigenständige Person wahrgenommen. Heute ist das ganz anders. Die Erfahrung und das Netzwerk tragen ihren Teil dazu bei. Ich fühle mich selbstbewusst und kann mich wehren und die Personen zur Rede stellen, die mir z.B. unangebrachte Mails schreiben. Das war früher anders. Bei sexistischen Sprüchen dachte ich zwar, dass das nicht normal sein kann, aber ich habe es trotzdem hingenommen. Auch weil ich Angst hatte, sonst meinen Job zu verlieren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute und in Zukunft darüber reden. Nur über diese Sichtbarkeit wird sich etwas ändern.

Lena: Du kommst als junge Frau in eine Welt, die, jetzt mal in simplen Klischees gedacht, von älteren, weissen Männern gemacht ist, und du versucht irgendwie, dort deinen Platz zu finden. Von Anfang an ist klar: wenn du hier erfolgreich sein willst, musst du dich ihren Spielregeln anpassen und dich innerhalb der vorgegebenen Strukturen zurechtfinden. Wenn ich heute überlege, was ich mir teilweise via Mail, aber auch in persönlichen Gesprächen an blöden Sprüchen anhören musste und ich, genau wie Anita, dachte: das kann doch nicht normal sein! Trotzdem gehörte es zum Alltag. Heute ist das zum Glück nicht mehr so und ich würde mir das mittlerweile nicht mehr gefallen lassen. Früher schwingte aber immer eine Angst mit, sonst aus dem System rauszufliegen, weil man als Frau automatisch als empfindlich, anstrengend oder mühsam gelten kann.

Scheiterte es vielleicht auch daran, dass es keine entsprechenden Vorbilder gab?

Lena: Definitiv. Ich habe schon früh Musik gemacht, wusste aber: auf der Bühne stehen, das ist nichts für mich. Mich interessierte viel mehr, was dahinter passiert und wie das Business funktioniert. Als ich mir anschaute, wer dort arbeitet, war das sehr ernüchternd: es waren fast nur Männer, v.a. in den wichtigen Positionen. Das prägt dich, ob zu willst oder nicht. Und der Klassiker: Ich weiss nicht, wie oft ich mit einer Band unterwegs war, kurz den Backstage ohne Pass verliess und mich kein einziger Security wieder reinliess. Einfach weil er nicht glaubt, dass ich kein Groupie bin, sondern dort arbeite. Meinen männlichen Kollegen ist das nie passiert.

Ist es nicht auch so, dass Männer sich eher etwas zutrauen, auch wenn sie die entsprechende Expertise gar nicht haben, und wir Frauen uns einmal zu oft fragen, ob wir der Aufgabe gerecht werden?

Lena: Dazu hatte ich einen Aha-Moment. Als ich beim Gurtenfestival anfing, gab es ein paar Medien die wissen wollten, wer wir sind und wie wir uns fortan intern organisieren. Ein Medium wollte spezifisch mit mir reden (es ging um eine Rubrik, in der diverse Personen befragt wurden, also nicht in dem Sinne arbeitsbezogen). Ich dachte sofort, nein, das muss ich nicht machen, da geht es um mich als Person und nicht um die Sache. Als ich dankend abgelehnt habe, fragten sie verständlicherweise einen männlichen Kollegen und da merkte ich: Stopp! Es ist komplett egal, ob ich das gerne mache oder nicht. Es ist wichtig für die Sichtbarkeit und Repräsentation und deshalb muss ich mich aus der Komfortzone bewegen. Wenn ich selber steuern kann, ob da eine Frau oder ein Mann steht, dann muss ich diese Verantwortung wahrnehmen. Genauso beim Jobtitel: Wenn mich Medien fragen, wie sie mich nennen sollen, sage ich: wenn du wenig Platz hast, dann schreib nur «Mitglied der Geschäftsleitung». Das sind kleine Details, die aber total wichtig sind.

Lena Fischer

Lena Fischer interessiert sich früh für die Kulturbranche. Sie spielte selber diverse Instrumente, entscheidet sich aber, hinter die Kulissen zu wechseln. Bei Sony Music wird sie innert kürzester Zeit von der Praktikantin zur Junior A&R. Weil ein berufsbegleitendes Studium nicht möglich ist, und sie mit 24 Jahren nicht auf eine Musiklabel-Karriere setzen will, kündigt sie ins Blaue hinein. Der Musiker Seven packt diese Chance und gibt ihr nicht nur ein PR-Mandat, sondern auch die Möglichkeit, nebenbei zu studieren. Am Ende ist Lena Teilhaberin und im Management-Team seiner Firma redkey und übernimmt darüber auch das Booking der Waldbühne vom Gurtenfestival. 2019 wechselt sie ganz dorthin und ist heute in der Geschäftsleitung, Leiterin Marketing- und Kommunikation, Mediensprecherin und Bookerin.

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Lena Fischer Portrait

«Viele schmücken sich mit fremden Federn und reden von Diversität, handeln aber nicht entsprechend.»

Lena Fischer

Achtet ihr auf eine paritätische Besetzung, im Team, beim Line-Up oder bei den Themen, die ihr bearbeitet?

Lena: Mir persönlich ist es ein Anliegen und meinen Mitarbeiter:innen zum Glück auch – sowohl beim Booking als auch intern. Wir sind noch lange nicht perfekt, klar, wir dürfen, müssen und können noch ganz viel dazu lernen, aber wir arbeiten konstant daran. Und als Mainstream-Festival, das 20'000 Besucher:innen pro Tag zählt, braucht es natürlich auch Künstler:innen, die diese Tickets verkaufen können. Da spielen ganz viele, teilweise unkontrollierbare Faktoren mit rein, aber das heisst noch lange nicht, dass man nicht an die 50:50 rankommen kann.

Anita: Ein kleineres Beispiel: Wenn ich einen Newsletter rauslasse, versuche ich ein Gleichgewicht zu finden. Ich habe auch schon männliche Acts rausgenommen und mit einer weiblichen Künstlerin ersetzt, die zwar weniger Streams, dafür einen grandiosen Song hatte. Und apropos Gleichberechtigung und Female Empowerment: Letzte Woche fanden die Swiss Music Awards statt. Am Branchen-Apéro kurz vor der Veranstaltung fand ich es doch sehr erstaunlich, wie wenig Frauen und wie viele Männer sich dort versammelten. Vordergründig und auf der Bühne wird propagiert, wie wichtig diese Themen sind, blickt man hinter die Kulissen, sieht die «gelebte Gleichberechtigung» leider anders aus.

Lena: Genau das ist ein Problem. Viele schmücken sich mit fremden Federn und reden davon, handeln aber nicht entsprechend. Zuerst müssen aber die inneren Strukturen verändert werden. Sonst nützt das alles nichts.

«Die Quote ist die einzige Möglichkeit, zu einer echten Chancengleichheit zu kommen.»

Anita Spahni

Quote: Ja oder Nein?

Lena: Keine einfache Frage. Wir haben intern keine fix definierte Quote, aber wir nehmen uns selber in die Verantwortung und führen diese Diskussionen ständig. Unser Ziel ist ganz klar überall Parität zu erreichen. Ich spreche nicht nur von Frauen und Männern, es ist noch ein langer Weg, bis wirklich alle inkludiert sind. Ich leite bei uns die interne Arbeitsgruppe «Kulturklima», die sich mit Themen wie Diversität oder Nachhaltigkeit beschäftigt. Pro Jahr setzen wir zwei, drei konkrete Massnahmen um, das kann z.B. auch nur ein interner Newsletter sein, wo wir Bücher, Podcasts oder Serien zu diesen Themen vorstellen. Mit Partner:innen wie Helvetiarockt sind wir ebenfalls im Austausch. Am Ende ist es ziemlich einfach: Sprache ist Macht und Bilder sind Macht. Deshalb achten wir darauf, dass wir nicht nur heteronormativen Weltbildern gerecht werden.

Anita: Ich bin dafür, ja. Ich verstehe auch die Frauen nicht, die sich dadurch nicht ernst genommen fühlen oder Angst davor haben. Es ist die einzige Möglichkeit, zu einer echten Chancengleichheit zu kommen, gerade was Führungspositionen betrifft.

Wie wichtig ist es für Frauen, sich gegenseitig zu unterstützen?

Anita: Super wichtig! Meiner Meinung nach war das Konkurrenzdenken früher grösser als heute. Es fand auch selten ein Austausch untereinander statt. Heute nutzt man die Chance, sich zusammenzutun, zu connecten und so stärker zu werden und eine Stimme zu haben. Ich empfehle regelmässig Kolleg:innen weiter, weil ich durch meine Jobs bereits bestens ausgelastet bin. Im «SisInBiz»-Chat tauschen wir Frauen in der Musikindustrie uns untereinander aus , das ist sehr wertvoll. Bald wollen wir einen Verein gründen.

Lena: Ich sehe es auch so, dass es heute viel besser ist als damals. Das Verständnis, die Sensibilisierung und die Bereitschaft sind stärker. Damals war es manchmal auch so, dass die Frauen, die es geschafft haben, damit beschäftigt waren, ihren Platz zu verteidigen und nicht noch Zeit und Energie hatten, die jüngeren Kolleg:innen zu fördern.

Welche Tipps habt ihr für junge Berufseinsteiger:innen?

Anita: Egal wie viel Erfahrung man hat, man muss immer respektvoll behandelt werden. Wenn es unangenehme Situationen gibt, muss man diese ansprechen und die entsprechenden Personen konfrontieren. Nur so wird man stärker und kommt persönlich weiter. Und ganz wichtig: sich nie kleinmachen!

Lena: Der Austausch und die Offenheit untereinander ist enorm wichtig, es soll kein Closed Circle sein. Ich bin nicht der Meinung, dass man sich zuerst alles selber erarbeiten muss, nur weil es früher vielleicht so war – ganz im Gegenteil. Ausserdem gibt es viele tolle Netzwerke und Plattformen, wie z.B. Helvetiarockt oder Say Hi, wo Menschen aktiv an einem diversen Netzwerk arbeiten.

Die Musikindustrie verlangt flexible und oft sehr lange Arbeitszeiten. Anita, du bist nicht nur selbstständig, sondern auch Mutter zweier Kinder (fünf und sieben Jahre alt). Wie schaffst du das?

Anita: Viele fragen sich, wie das geht. Ich habe das grosse Glück, dass meine Eltern in der Nähe wohnen und uns extrem unterstützen. Ohne ihre Hilfe wäre es unmöglich. Ich musste lernen, mir selber Grenzen zu setzen und nicht alle Jobs anzunehmen. Die Musikindustrie verlangt maximale Flexibilität, und manchmal geht das einfach nicht mit zwei kleinen Kindern. Aber es ist schon so, dass ich – gerade am Anfang – oft verschwiegen habe, Mutter zu sein. Auch wenn es die Leute nicht zugeben, aber als Mutter bist du zusätzlich stigmatisiert in Bezug auf deine Leistungsfähigkeit. Viele denken, nur weil du Kinder hast, machst du den Job nicht richtig. Das ist totaler Quatsch. Aber klar, wenn ein Call mal länger geht und ich abbrechen muss, weil ich Mittagessen kochen muss, gabs auch schon schräge Reaktionen. Heute verunsichert mich das zum Glück nicht mehr.

«Bei all den schönen Worten müssen jetzt auch Taten folgen.»

Lena Fischer

Schauen wir zum Abschluss nach vorn. Was muss passieren, damit diese Strukturen aufbrechen und mehr Frauen in Betracht gezogen werden?

Lena: Das Gatekeeping muss aufhören. Das passiert teilweise schon und wird sich durch den Generationenwechsel weiter verstärken. Junge Kolleg:innen müssen nachgezogen werden und bei all den schönen Worten müssen jetzt auch Taten folgen. Die mediale aber auch allgemeine Aufmerksamkeit – immer in einem konstruktiven Sinne - hilft ebenfalls, dass sich hoffentlich immer mehr verändert.

Anita: Es braucht eine gesetzliche Quote. Klar hilft die mediale Aufmerksamkeit und die Offenheit dem Thema gegenüber, aber die Quote ist unumgänglich für eine echte Chancengleichheit. Es gibt so viele tolle Frauen da draussen, und es ist kompletter Bulls***, dass die nicht in Führungspositionen sein wollen. Das wird nur dadurch verhindert, weil sie erst gar nicht die Möglichkeit erhalten.

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