Veröffentlicht am 14. Juni 2022

ABBA Voyage - die Konzertrevolution, die gar keine ist

Es gibt sie nicht mehr allzu oft, die Dinge im Leben, die man zu ersten Mal macht. Ein voll digitalisiertes Konzert einer Kultband hingegen ist eines dieser Dinge – wir besuchten das Spektakel in London.

Journalist
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Es war das wohl meist erwartete und heiss angekündigte Show-Ereignis seit vielen Jahren: das virtuelle Comeback von Abba nach über 40 Jahren Bühnenabwesenheit. Die als Revolution im Konzert-Business angekündigte Show genoss viele Vorschusslorbeeren und nach der Premiere praktisch einheitlich gute Kritiken. Sogar die konservative britische Presse schwärmte nach der Erstvorführung in Anwesenheit von allen Abba-Bandmitgliedern und sagte der Show bereits viele Nachahmer voraus.

Seit mehreren Wochen treten die Abba-Avatare nun auf – oder Abbatare, wie die Macher der aufwändigen 3D-Show sie nennen. Für das Comeback des schwedischen Quartetts wurde kein Aufwand gescheut: neuste Technologie, mehrjährige Entwicklung und sogar eine eigene Arena entstand im Westen Londons.

«Die Abba-Marketing-Maschinerie wurde optimal abgestimmt.»

David Jäger
  - Johan Persson
- Johan Persson

Erste Eindrücke

Show-Business-Atmosphäre wie im Musical-Quartier Soho versprüht sie nicht, die Anreise in den Westen Londons, wo am südlichen Ende des abgelegenen Olympia-Geländes von 2012 eine extra eigene Arena für die Abba-Show errichtet wurde. Mindestens fünf Jahre wurde das Gelände dafür gepachtet, was auf eine ähnlich lange Spielzeit wie die weltweit erfolgreichen Abba-Musicals hindeutet.

Wie ein gestrandetes Ufo erscheint die moderne und architektonisch durchaus gelungene Arena, die im optischen Vergleich zum angrenzenden Olympia-Stadion klein und kompakt wirkt. Es herrscht eine ausgelassene und positive Stimmung unter den angereisten Besuchern und glücklichen Ticketinhaber:innen für die ersten Show-Tage Schliesslich gehört man zu den Ersten, welche die technologische Konzertinnovation sehen dürfen. Vorfreude und Spannung sind spürbar, niemand hat wohl etwas Vergleichbares jemals erlebt. Der Abba-Kult ist rund um die Arena omnipräsent, dutzende von Besucher:innen erscheinen in üppigen und kitschigen 70er-Jahre-Kostümen ihrer Lieblinge, ein Selfie neben dem grossen Abba-Voyage-Logo gehört ebenso dazu wie der Kauf eines Show-Souvenirs oder Abba-Mehrwert-Bechers an einem der dutzenden Getränke-Ständen. Die gesamte Infrastruktur erscheint im perfekten Glanz und die Retro-Musik erhöht die Konsumbereitschaft und Vorfreude auf die bevorstehende persönliche Premiere. Kurz: die Abba-Marketing-Maschinerie wurde optimal abgestimmt.

Die Show

Die abgedunkelte Arena wirkt im Inneren auf den ersten Blick nicht anders als eine moderne Konzert-Halle: Sitzplätze auf den Tribünen und Stehplätze vor der Bühne, die mit einer Art Laser-Vorhang noch wenig über den bevorstehenden Avataren-Auftritt verrät. Für etwas mehr Eintritt-Geld kann man sich ein originelles Upgrade leisten, ein kleiner Balkon für maximal 10 Personen mit eigener TanzFläche und angrenzender Bar, eine sehr empfehlenswerte Option für diejenige, die gerne tanzen aber nicht dauerhaft stehen möchten.

Dann kommt er, der lang ersehnte, magische Augenblick: Abba erscheinen als junge Musiker auf der Bühne. Plötzlich stehen sie da, wie echte Menschen winken sie dem Publikum zu. Die Menge kreischt, als würden die echten Superstars aus den 70er Jahren vor ihnen stehen, man reibt sich erstmals die Augen: Wie kann das sein? Die sehen ja 100% echt aus! Faszination und Ungläubigkeit macht sich in den Gesichtern der Besucher breit.

Trotz der verblüffend echten Wirkung ist die Show nicht mit einem normalen Konzert zu vergleichen, denn der Bühnenauftritt der Abbatare wird immer wieder durch grossflächige Projektions-Effekte und technische Spielereien angereichert – oder unterbrochen. Das Ganze verkommt dadurch zu einer Art Mischung zwischen Konzert, Projektion-Show und Musical. Ein Dutzend echte (und hochwertige) Live-Musiker begleiten die Show und geben die Abba-Lieder in perfekter CD-Qualität wieder. Dieses reale Element ist zwar sympathisch, verkommt aber durch die aufwändige und pompöse technische Inszenierung vollkommen zur Nebensache.

Originell und teils sogar humoristisch angereichert halten Frida, Agnetha, Benny und Björn sogar einzelne Ansprachen an das Publikum, worauf dieses begeistert und emotional reagiert, als wäre der Dialog interaktiv und spontan. Die hochwertige technische Umsetzung lässt offensichtlich die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwinden.

Beim gigantischen Hit-Repertoire von Abba wirkt die 90-minütige Show (ohne Pause) etwas kurz, insbesondere im Vergleich zu echten Konzerten, doe in der Regel zwischen 100-120 Minuten dauern. Entsprechend dürften Abba-Fans das einte oder andere ihrer Lieblingslieder schmerzlich vermissen. Umso mehr, da in die 90er auch noch neue Werke integriert wurden. Nichtdestotrotz kann die Show als ein guter Querschnitt durch das Band-Repertoire bezeichnet werden.

Zum Abschluss der Reise erscheinen die vier virtuellen Abba-Mitglieder in ihrer heutigen Zeit, also um fast 50 Jahre gealtert, auf der Bühne und bedanken sich herzlich beim begeisterten Publikum. Dies steht sinnbildlich für eine 90-minuten Zeitreise zurück in die 70er Jahre, die wohl niemand in der Arena missen möchte.

«Muss man Abba-Voyage gesehen haben?»

David Jäger

Das Fazit

Abba Voyage ist nicht die Revolution des Konzerterlebnisses, sondern eine verblüffend attraktive Ergänzung und eigenständige Show-Typologie. Am ehesten vergleichbar mit einer immersiven, digitalen Kunst-Show, die ein neues Publikum anspricht, klassische Museen und Galerien jedoch nie verdrängen wird. Die Eindrücke aus London lassen erahnen, dass mit dieser und der nächsten Technologie noch viel mehr möglich sein wird – schon bald dürften wir wohl die verpassten Konzerte der verstorbenen oder zurückgetretenen Legenden wie den Beatles, Elvis Presley, Bob Marley oder Michael Jackson nachholen – oder Woodstock und Live Aid reloaded erleben.

Muss man Abba-Voyage gesehen haben? Soll man dafür sogar extra nach London reisen? Die Antwort fällt differenziert aus und hängt von der eigenen Erwartungshaltung ab.

Must See für:

  • Abba-Fans, welche die Band nie live gesehen haben
  • Technologie-Interessierte / -Faszinierte

Nice to see für:

  • Musical- und Show-Liebhaber, welche Abba-Musik mögen
  • Diejenigen, die etwas Neuartiges erleben möchten

Nicht zu empfehlen für:

  • Verfechter von Live-Musik mit realen, interaktiven Emotionen

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