Was wir heute von «Trainwreck: Woodstock '99» lernen können
Die dreiteilige Neftlix-Doku zeigt die Eskalation eines Festivals, das sich anmaßte, den «Woodstock»-Spirit noch einmal wiederzubeleben. Es wurde ein organisatorisches Desaster mit Riots und sexuellen Übergriffen – von dem man bis heute lernen kann.
Wenn das so weitergeht, können wir bald eine Liste machen mit dem Titel: «Diese x Netflix-Dokus sollte jede:r Veranstalter:in gesehen haben». Schon «FYRE: The Greatest Party That Never Happened» über den vielleicht dreistesten Event-Scam der letzten Jahre wurde unter den zahlreichen Menschen aus unserem Umfeld, die sich mit Live Events beruflich befassen, hitzig diskutiert. Das dürfte auch mit «Trainwreck: Woodstock `99» passieren – eine dreiteilige Dokumentation, die sich mit einem der größten Fiaskos der Festivalwelt befasst und zahlreiche Beteiligte zu Wort kommen lässt – leider zu wenige, die die wahren Gründe für dieses «Trainwreck» von Veranstaltung ansprechen. Der Konzertveranstalter John Scher zum Beispiel, bekommt viel zu viel unwidersprochene Redezeit, um sich von der Verantwortung reinzuwaschen. Scher hatte sich das inzwischen dritte Update des originalen Woodstock mit Michael Lang ausgedacht – dem originalen Mitbegründer der Festivallegende, die 1969 in Bethel, New York stattfand und bis heute für den Höhepunkt der Hippie-Kultur steht. Beim Woodstock `99 gab es jedoch statt «3 Days & Peace & Music» drei Tage voller Müll, Verletzungen, Riots, brennender Zelte, sexuelle Übergriffe und eine ultra-toxische, überwiegend männliche Crowd, die mit jedem Tag extremer wurde. Das alles ist zum größten Teil Schuld der geldgeilen, überforderten Veranstalter – auch wenn sich der Regisseur Jamie Crawford redlich bemüht, die toxische Stimmung als Ventil einer frustrierten Generation von Rockfans zu interpretieren, die gegen die Kommerzialisierung der Musikwelt revoltierten.
Seit 1999 ist viel passiert in der Festivalwelt und der Grad der Professionalisierung ist bei den großen Events im europäischen Raum sehr hoch. Trotzdem kann man an «Trainwreck: Woodstock `99» einige Grundprobleme ablesen, die auch heute noch manchmal aktuell sind. Bei Woodstock `99 lagen die Grundprobleme in der Planung begründet: Das Event versammelte 250.000 Menschen auf einer Militärbasis in der Nähe von New York – an einem Juli-Wochenende, an dem die Temperaturen beizeiten auf die 40 Grad zugingen. Trotzdem wurde dem Publikum nicht erlaubt, eigenes Wasser und Essen auf das Camping-Gelände zu nehmen. Die Preise waren außerdem extrem hoch: Eine Flasche Wasser kostete rund 4 Dollar, als das Wasser bei den Händlern knapp wurde, kletterten die Preise auf 12 Dollar. Was es stattdessen immer gab: Bier vom Hauptsponsor Budweiser und zahlreiche Dealer, die völlig schamlos ihren Stoff auf dem Festivalgelände verticken durften. Die Wasserspender, die es gab, funktionierten nicht richtig und – wie man später im Labor herausfand: Das Wasser war verschmutzt bis zu einem Grad, der gesundheitsgefährdend war. Schon die Wahl der Location war grob fahrlässig: An einem Hochsommerwochenende 250.000 Menschen auf ein überwiegend betoniertes Festivalgelände ohne Schatten zu schicken, ist keine gute Idee. Dass die Stimmung eskalierte lag auch an diesen Zuständen.
Es gibt viele Szenen im Film, die zeigen, wie abgefuckt die Stimmung und die Situation auf dem Festivalgelände in Rome war. Eine davon ist der Auftritt von Wyclef Jean, der einen historischen Woodstock-Moment zitierte und wie einst Jimi Hendrix «Star Spangled Banner» auf seiner Gitarre spielte – und dabei mit Bechern und Flaschen beworfen wurde. Ein Schicksal, das viele Bands ereilte, weil das Gelände mit jedem Tag mehr im Müll versumpfte. Wie auch in Sachen Security hatte man nämlich am Personal gespart, mit unausgebildeten Kräften gearbeitet und das Arbeitspensum völlig unterschätzt. Die Zustände wurden mit jeden Tag schlimmer, die Crowd aggressiver, die Sicherheitslage angespannter.
«Es fühlt sich an, als würden wir hier eine Tierdoku auf dem Discovery Channel sehen. Ich hoffe, einige von diesen Typen kriegen einen Tritt zwischen die Beine, so dass sie sich niemals mehr fortpflanzen können.»
TV-Reporter während der Show von Limp Bizkit
Ein Hauptproblem von Woodstock `99 war allerdings tatsächlich gesellschaftlicher Natur: Das Line-up bestand überwiegend aus prolligen, weißen, männlichen Rockbands, deren Fans nicht selten eine aggressive, toxische Bro-Culture pflegten, in denen Frauen oft nur als Sexobjekte auftauchten. In den Tagen nach dem Festival häuften sich tragische Geschichten von sexuellen Belästigungen bis hin zu einer Gruppen-Vergewaltigung während der Show von Korn. Eine junge Frau wurde dabei während des Crowd-Surfens von einer Gruppe Männer heruntergezogen und inmitten der Menschenmenge vergewaltigt. Der Vorfall wurde erst in den Tagen nach dem Festival bekannt – ebenso wie weitere Übergriffe. Es ist vielleicht eine der wichtigsten Errungenschaften der Festivalwelt, dass es inzwischen bei Großveranstaltungen Awareness Teams gibt und spezielle Codewörter, mit denen man übergriffige Situation bei jedem Crew-Mitglied melden kann. In der Netflix-Doku gibt es zahlreiche Aussagen von Frauen, die erzählen, dass sie sich die meiste Zeit nicht sicher fühlten und immer wieder belästigt wurden. Aber auch die wenigen Künstlerinnen im Line-up bekamen die toxische Stimmung zu spüren. Die Songwriterin Jewel verließ unter Tränen die Bühne, nachdem eine aufgepumpte Crowd sie ausbuhte und mit Flaschen bewarf. Die ersten Riots brachen dann beim Gig von Limp Bizkit aus, als Bandleader Fred Durst, die Menge anheizte «alle negative Energie» rauszulassen, bevor er «Break Stuff» spielte. Auch hier wird die Regie fahrlässig, in dem sie Promoter und Hauptverantwortlichen John Scher nicht widerspricht, als der versucht, diese massive Eskalation auf die Band zu schieben. Klar, war das wenig hilfreich, aber die Leute waren zu dem Zeitpunkt zurecht angepisst über die massive Produktenttäuschung eines überteuerten Festivals.
«Heilige Scheiße, das ist ja wie bei Apocalypse Now da draußen!»
(Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers beim Blick in das Publikum und die ausbrechenden Feuer)
Im Film kommt auch der mittlerweile verstorbene Michael Lang ausführlich zu Wort, der am Ende um Mitleid buhlt und melancholisch lächelnd das Ende des Woodstock-Traumes beklagt. Dabei kann man an den Archivbildern des Films deutlich erkennen, wie viel Glück die Veranstalter am Ende doch noch hatten, dass nicht noch mehr passierte. Und das obwohl sie so gut wie alles falsch machten, was man mit einer Großveranstaltung falsch machen kann. So zum Beispiel auch das große Finale, als man das kommerzielle, überteuerte Event am Sonntagabend noch zu einem politischen Movement hochjazzen wollte. Da wurden im Publikum Kerzen verteilt für eine Gedenkminute zu Ehren der Opfer des Amoklaufs an der Columbine High School im selben Jahr. Die aggressive Meute hatte natürlich andere Pläne – und nutzte die Kerzen, um zahlreiche Feuer zu machen während des letzten Konzerts des Festivals von den Red Hot Chili Peppers. Danach zog die marodierende Horde nach dem Konzertabbruch Richtung Campingplatz, zündete Toiletten an und raubte die Shop-Zelte aus. Die Feuerwehr traute sich lange Zeit nicht zu den Brandstellen, weil sie um ihre Sicherheit sorgte. Auch hier hat John Scher wieder einen Auftritt und erzählt, wie er ihnen gesagt hätte: «Do your fucking job.» Ein Sprecher der Feuerwehr kommt im Film nicht zu Wort. Der hätte sich gut erklären können, warum man sich nicht in eine wütende, randalierende, besoffene Menschenmasse stürzt, die gerade zu Riots aufruft.
Wie überhaupt das Verhältnis der sich herausredenden Verantwortlichen und der kritischen Betroffenen in diesem Film extrem ungleich gewichtet ist. Erst am Ende, wenn es um die sexuellen Übergriffe geht, hat Michael Lang das Rückgrat zu sagen, dass man für die Menschen auf dem Gelände verantwortlich war und dieser Verantwortung nicht gerecht wurde. Scher hingegen redet sich auf eine Weise raus, für die er einen Tritt in die Eier verdient hätte. Er setzte die Anzahl der Vorfälle in Relation mit der durchschnittlichen Zahl der Vergewaltigungen in größeren US-Städten und relativiert damit die Vorfälle auf eine Weise, die man ihm nicht hätte durchgehen lassen sollen.
So bleibt ein fader Beigeschmack nach den drei Stunden Festival-Fuck-Up, die man seit Freitag bei Netflix anschauen kann. Aber «Trainwreck: Woodstock `99» zeigt immerhin, wie wichtig es ist, große Veranstaltungen in geschulte Hände zu legen – von Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, wenn eine Situation eskaliert. Und der Film zeigt, dass wir unbedingt dafür sorgen müssen, dass Festival-Line-ups diverser werden – und dass es Strukturen, Sicherheitskräfte und auch erzieherische Strafmaßnahmen wie Platzverweise geben muss, damit sich Frauen und weiblich gelesene Personen auf Festivals endlich sicher fühlen können - und nicht von toxischen Dudes belästigt werden.