Pubblicato il 28. dicembre 2022

Hitzone: Wie «Insomnia» von Faithless die Grenzen zwischen Dance und Pop zertrümmerte

In Gedenken an den am 23. Dezember verstorbenen Maxi Jazz schauen wir auf den größten Hit seiner Band Faithless. «Insomnia» erschien im Dezember 1995 in England, Anfang 1996 dann in anderen Ländern. Die einzige Nr.1-Charts-Platzierung in Europa gelang ihnen in der Schweiz.

Journalist
3716

«Insomnia» zählt zu den wenigen Songs, bei denen ich mich an den exakten Moment erinnere, als ich ihn zum ersten Mal live gesehen habe. Das passiert mir vor allem dann, wenn ein Song mich dazu bringt, meine Meinung zu ändern – oder etwas zu lieben, das ich vorher kritisch beäugt oder gar verachtet habe. «Insomnia» von Faithless waren ein entscheidender Baustein auf meinem Weg zur Einsicht, das Dance- oder Techno-Musik auch so sein kann, wie ich meine Musik als junger Erwachsener liebte: atmosphärisch, dunkel, mitreißend. Neben meiner ersten Begegnung mit Underworld und den Chemical Brothers auf dem Pinkpop Festival in Holland, war es die Faithless Clubshow in einer deutschen Stadt namens Herford, die mich auf den richtigen Weg brachte in Sachen elektronischer Musik. 1996 war das, «Insomnia» wurde auf allen halbwegs modernen Radiostationen gespielt. Die Tickets für die Show hatten wir aber schon vor dem Hype gekauft, weil ein Kumpel von mir immer einen guten Riecher hatte, für Bands, die bald ganz groß werden sollten. Also spielten die noch recht frisch gegründeten Faithless ihre wohl erste Deutschlandtour auch in dieser Provinzstadt. Namentlich waren dabei die DJ und Musikerin Ayalah Deborah Bentovim alias Sister Bliss, Produzent Rowland Constantine O'Malley Armstrong aka Rollo und eben Maxi Jazz – dieser geheimnisvolle Mann mit der tiefen Stimme und Wangenknochen, die man nie mehr vergisst. Außerdem damals als Sängerin dabei: Dido. Sie ist die Schwester von Rollo und hat bei dieser Show ebenfalls mein Herz gewonnen. Aber «Insomnia» hat sich in meine Erinnerung gebrannt: Denn natürlich spielten Faithless ihre rund zehnminütige Version als großen Höhenpunkt einer wendungsreichen Show – und es gab kein Halten mehr. Die grellen Scheinwerfer flackerten, Maxi Jazz war wie ein dämonischer Hohepriester, der ständig skandierte «I can’t get no sleep!» und dabei genauso aussah. Und dann kam immer wieder dieses von Sister Bliss gespielte Keyboard – eine lupenreiner Ibiza-Moment, bei dem man nichts anderes machen kann, als wie der letzte Depp mit dem Zeigefinger in die Luft zu hacken und dabei auf und abzuspringen. Da mitzugehen, war für mich eigentlich ein Unding. Bis zu einem Jahr davor hatte ich noch alles verachtet, was keine verzerrte Gitarre in der Instrumentierung hatte.

«I can’t get no sleep»

Die Lyrics von «Insomnia» machen dem Thema alle Ehre. Das dunkel geraunte «I can’t get no sleep» brennt sich wie ein tragisches Mantra ein. Die Line der ersten Strophe wird dann gleich poetisch: «Deep in the bosom of the gentle night / Is when I search for the light / Pick up my pen and start to write / I struggle and fight dark forces in the clear moonlight / Without fear / Insomnia.» Die «gentle night» ist natürlich eine Dylan-Thomas-Referenz, denkt man so, das Bild des ruhelosen Künstlers, der nachts zum Stift greift, ein Motiv, das in der Literatur ebenso wie in der Musik weit verbreitet ist. Maxi Jazz erklärte der britischen Tageszeitung «The Guardian» vor einigen Jahren allerdings, wie es wirklich lief bei der Texterei: «Die erste Zeile – ‘Deep in the bosom of the gentle night’ – ist nicht gedacht, um den inneren Dylan Thomas in mir rauszulassen. Das wurde uns von MTV aufgezwungen, weil sie die ursprüngliche erste Zeile – ‘I only smoke weed when I need to’ – für zu anschaulich hielten. Bei den Zeilen ‘Making mad love to my girl on the heath / Tearing off tights with my teeth’, die später im Song kommen, wurden die Augenbrauen hochgezogen, aber sie durften drin bleiben.» Wie gut die Catch Phrase «I can’t get no sleep» in der Clubszene ankam, war ihnen aber so gar nicht bewusst, wie Maxi Jazz zugab: «Keiner von uns ahnte, wie sehr die Zeile bei Generationen von Clubbesuchern ankommen würde. Plötzlich wurde der Song vor einem Publikum gespielt, das wahrscheinlich Drogen im Wert von 50 Pfund zu sich genommen hatte und tagelang nicht daran dachte, viel Schlaf zu bekommen. Hätten wir absichtlich versucht, darüber zu schreiben, wäre es kitschig geworden, aber im Nachhinein denkt man: ‘Genial!’». Maxi Jazz gab unumwunden zu, dass er fast ein wenig geschockt war, wie groß «Insomnia» wurde – und dass der Song zu einer Art All-Time-Favourite oder gar Klassiker wurde. «Wenn ich ein Pfund bekommen hätte für jedes Mal, wenn jemand grinsend auf mich zukommt und mir ‘I can’t get no sleep’ zuraunt, wäre ich ein reicher Mann und würde jetzt vermutlich auf meiner eigenen Weltraumstation leben.»

«Ich habe mein großes Keyboard-Riff bewusst zurückgehalten.»

Das ikonische Keyboard-Riff, das ich weiter oben böserweise als Ibiza-Moment bezeichnet habe, wurde tatsächlich inspiriert von einer ebenfalls bereits in diesem Artikel erwähnten Band: Underworld. Das sagte Sister Bliss dem «Guardian»: «’Lionrock’ von Justin Robertson beeinflusste die leicht Reggae-artige Basslinie. Dass ich mein großes Keyboard-Riff bis zum Ende des Songs zurückhielt, war eine Idee, die wir von Underworld und ihrer Art, Spannung aufzubauen, übernommen hatten: einfach warten, warten, warten und dann – peng! Als Rollo sagte: ‘Mach große Streicher rein!’ , erinnerte ich mich an Donna Summers ‘I Feel Love’ und wie es von einem Dur-Akkord zu einem Moll-Akkord übergeht, und tat das Gleiche. Die Glocken im Intro stammen von einer BBC-Soundarchiv-CD.» Auch die Produktion des ikonischen Tracks war eher «down to earth», wie Sister Bliss erzählt: «Wir haben ‘Insomnia’ in einem Gartenschuppen geschrieben, denn dort hatte unser Produzent Rollo Armstrong sein Studio. Den ganzen Tag da drin zu sein und dann die ganze Nacht als DJ zu arbeiten, war wie ein permanenter Jetlag. So kam ich auf den Titel ‘Insomnia’, weil ich nicht einschlafen konnte. Rollo spielte nicht wirklich ein Instrument. Er hat eine Krankheit namens Synästhesie, bei der man Musik als Farben sieht, also beschrieb er einfach, wie er etwas klingen lassen wollte. Wir waren die meiste Zeit sehr stoned.»

«Insomnia» rauschte regelrecht durch die europäischen Charts und brachte die Band schon im zweiten Jahr ihres Bestehens zur Charts-Show «Top Of The Pops» wo sie kurz vor den Spice Girls performten. Die Single ging jedoch in UK nur auf Platz 3, in Deutschland auf die 2 und in Österreich auf die 5. Die einzige Nr.-1-Platzierung erfolgte bei uns in der Schweiz.

Der Hintergrund dieser Hitzone ist natürlich ein tragischer, wie wohl alle Fans der Bands wissen dürften: Maxi Jazz starb in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember im Alter von 65 Jahren. Laut einem Statement der Band sei er friedlich im Schlaf verstorben. Die Todessursache wurde nicht genannt. R.I.P. Maxi Jazz.

Ti è piaciuto l'articolo?