Moll ist toll: Die Popmusik wird trauriger
Viele Studien und Auswertungen der letzten Jahre zeigen: Erfolgreiche Popmusik wird immer trauriger. Mehr als die Hälfte der Charts setzt heutzutage auf Moll-Akkorde. Wir haben die Erkenntnisse zusammengetragen.
Schon das Playlist-Angebot von Spotify spricht eine deutliche Sprache: Der Streaming-Anbieter, der wie kein anderer auf sogenannte «Mood»-Playlisten setzt, bietet zum Beispiel das «sad girl starter pack», die «Sad 90s», die «Sad Hour», «Sad Soul», «Sad Piano», den «Sad Crying Mix» oder schlicht «Sad Songs». Angeblich sei «sad» auch der bei Spotify am meisten genutzte Suchbegriff unter Teenager:innen.
Tatsächlich gibt es immer mehr Studien und harte Zahlen, die belegen, dass traurige Musik auf dem Vormarsch ist. Das trug die Neue Zürcher Zeitung erst kürzlich in einem aufschlussreichen Artikel zusammen. Darin lernt man zum Beispiel, dass der Daten-Analyist Chris Dalla Riva alle Nr.1-Hits der US-Charts «Billboard Hot 100» untersucht hat, um rauszufinden, wie viele in der melancholisch wahrgenommenen Moll-Tonart und wie viele in der uplifting wirkenden Dur-Tonart gehalten sind. In den 60ern waren ungefähr 85 Prozent der Songs in Dur, 2021 waren das Verhältnis ungefähr fifty fifty. In den Jahren nach 9/11 reichiten die Mollwerte zeitweise bis zu 70 Prozent. Hier kann man sich die Auswertung in einer Grafik anschauen.
Passt die These zu den aktuellen Charts?
Schaut man heute in die aktuellen Charts der Schweiz, steht Lucianos «Time» an der Spitze. Ein Song, der mit unendlich traurigen, etwas pompösen Streichern startet, bis ein Beat aus dem Kellergeschoss dröhnt und der deutsche Rapper mit dunkler Stimme raunt «Bis zum Sky, unendlich Licht, doch ein weiter Weg, ah / Bruder, sei du selbst, so bist du strong, also bleib nie steh'n». Immerhin rappt er dann: «Sunshine kommt, greif dein Glück immer nach dem Regen.» Fröhlicher klingt der Track an dieser Stelle aber auch nicht. Ähnlich Moll-schwer geht es weiter: Auf Platz 2 steht der spanische TikTok-Durchstarter Iñigo Quintero, der in seiner Debütsingle «Si No Estás» dramatisch, todtraurig und etwas zu Autotune-schwanger von unerfüllter Liebe singt. Eine Zeile sagt ins Deutsche übersetzt ungefähr: «Und ich hasse es, wenn ich mit diesem Gift gefüllt bin.» Auf Platz 3 rangiert Tate McRae mit «Greedy» – auch ein Wort als Titel, das nicht wirklich auf happy Vibes setzt. Tatsächlich klingt «Greedy» zwar ein wenig schmissiger als die anderen beiden Lieder, setzt aber ebenso auf Moll-Akkorde.
Auch die Lyrics werden dunkler
Weitere Studien konzentrieren sich auf die Lyrics und kommen zu dem Schluss, dass Worte und Themen wie Ärger, Angst, Abscheu oder Wut immer häufiger verwendet werden. Lior Shamir von der Technical University in Kansas untersuchte die Lyrics von 6000 Singles der Billboard-Charts in der Zeit zwischen 1951 und 2016. Seine Erkenntnis: Die Erwähnung der genannten Wörter hat sich nahezu verdoppelt. Shamir sagte der BBC in einem Interview: «Man sieht eine sehr konsistente, sehr klare Veränderung: Die Texte werden wütender, ängstlicher, trauriger und weniger fröhlich. Es gibt sehr grosse Unterschiede zwischen den Texten in den späten 50er Jahren und denen von 2015 und 2016.» Gibt viele No.1-Hits aus der Zeit, die diese These belegen – vielleicht am besten die stimmgewaltigste Sad-Songs-Sängerin Adele (Foto), die 2011 mit «Rolling In The Deep» auf der 1 der US-Charts landete.
Melancholie und Traurigkeit werden tanzbarer
Abschliessend sei an dieser Stelle noch die Arbeit der Mathematikerin Natalia Komarova erwähnt. Sie nutzte die Recherche-Datenbank «AcousticBrainz», um 500.000 in der Zeit von 1985 bis 2015 in England veröffentlichte Songs auszuwerten. Sie achtete auf das Tempo der Songs und die Verwendung von Moll- und Dur-Tonarten. Ihre Erkenntnis: Der Ton der Musik wurde dunkler, allerdings bei zunehmender Tanzbarkeit. Da denkt man doch gleich an Robyns Hit «Dancing On My Own», der wie kaum ein anderer Melancholie und Traurigkeit tanzbar machte – und ein guter Schlusspunkt für diesen Text ist.