Veröffentlicht am 29. April 2023

Wer kauft noch immer “Bravo Hits”? Wir haben 3 Theorien

Seit über 25 Jahren hat die Hit-Compilation den Platz 1 unserer Hitparade abonniert. Auch die neu erschienene Nummer 121 wird das spielend leicht schaffen. Wir blicken auf die Geschichte der “Bravo Hits” und gehen einer der letzten grossen Fragen unserer Gegenwart nach: Who the New Kids on the Block kauft sich noch immer all diese CDs?

«Ich habe Wirtschaft studiert und Plastik verkauft.»

Ob sich Thomas Schenk diesen Satz einmal auf den Grabstein meisseln lässt, ist ungewiss. Gesagt hat er es 2018 in einem Interview mit der Rheinischen Post. Und fasst damit ganz gut sein zweifellos grösstes Lebenswerk zusammen: die Erfindung der “Bravo Hits”.

(Dieser Abschnitt braucht nur von Personen gelesen werden, die nach 2001 geboren sind: “Bravo Hits” ist eine Kombination aus “Bravo” und “Hits”. Die Bravo ist eine ehemals sehr populäre Jugendzeitschrift. Also eine Art TikTok, die man sich auf Papier am Kiosk kaufen kann. ”Hits” sind Songs, die man früher nur auf einem physischen Format gegen die einmalige Bezahlung eines Geldbetrags erwerben konnte. Zu Zeiten der “Bravo Hits” war dieses Format überwiegend eine aus Polycarbonat bestehende Scheibe namens CD.)

Der allererste Song der allerersten Bravo Hits Compilation: Sandra mit «Don't Be Aggressive»

Die Hitparade auf CD

1992 arbeitete Schenk als Marketingchef bei Warner Music und musste mit ansehen, wie die Konkurrenz seinem Brötchengeber die Suppe auslöffelte. Rivalisierende Musiklabels feierten Erfolge mit lizenzierten Sampler-CDs wie “Formel Eins” (EMI, basierend auf der gleichnamigen Hitparaden-Fernsehsendung) oder “Ronny’s Pop Show” (Columbia, basierend auf der gleichnamigen Hitparaden-Fernsehsendung, die von einem Schimpansen moderiert wurde) (it was a different time…). Um auch in diesem Geschäft mitzumischen, sicherte sich der ehemalige Wirtschaftsstudent per Handschlagdeal die Kollaboration mit dem Magazin Bravo - und verkaufte fortan so viel Plastik, wie es noch kaum einer vor ihm getan hatte im Musikbusiness.

Am Konzept von damals hat sich bis heute nicht viel geändert: Viermal im Jahr soll die “Bravo Hits” das aktuelle Chartsgeschehen abbilden. Die grössten Stars von jetzt und morgen, zunächst auf einer und ab “Bravo Hits 2” auf Doppel-CD zusammengefasst. Für damalige Teenies eine runde Sache, zumal sie all ihre Lieblingssongs nicht mehr einzeln als Singles oder Album kaufen mussten.

Sympathischer und fähiger als Günther Jauch: Der Moderator von Ronny's Pop Show.

Resteverwertung

In der Praxis schafften es aber immer wieder auch einige nicht so grösste Stars von jetzt und morgen in die Auswahl. Bereits auf dem ersten Sampler wurden unter anderem die Osmond Boys verewigt, deren Song “Show Me the Way” es einzig in den UK auf Chartsplatz 60 schaffte und von der Bravo damals vergeblich als “das nächste grosse Ding” hochgeschrieben wurden. Ebenfalls vertreten ist Fats Domino, der eigentlich um das Jahr 1957 all die Kids zum Swingen brachte. Sein Song “I’m Walkin” stieg jedoch dank einer Werbekampagne von Aral 1992 zum ersten Mal in die deutsche Hitparade bis auf Platz 12.

Es sind oft jene bizarren Ausreisser, die bis heute den Charme der “Bravo Hits” ausmachen und erahnen lassen, wie der quartale Hit-Hackbraten jeweils fest geknetet wird. Bei der Zusammenstellung der Compilation setzen sich die Big 3 der deutschen Musikunternehmen (Sony, Warner, Universal) zusammen und entscheiden über die Playlist. Doch gleichen die Verhandlungen oftmals auch “einem persischen Basar”, so Schenk. Die echten Filetstücke werden teilweise nur dann freigegeben, wenn es auch einige Knorpelteile in die Mischung schaffen - meist irgendwo ganz hinten auf CD 2 versteckt und in der Hoffnung, auf dem Rücken der “Bravo Hits” etwas Aufwind abzukriegen.

Chartsstürmer

Dem Erfolg tut das keinen Abbruch. Seit “Bravo Hits 12” hat es jede neue Veröffentlichung auf Platz 1 in Deutschland, Österreich und der Schweiz geschafft. Am 28 April erscheint die 121. Ausgabe des Samplers (unter anderem mit Rita Ora, Sam Smith und, äh, Linkin Park). Garantiert wird es auch diese Scheibe wieder bis ganz nach oben in die Verkaufscharts schaffen. Warum eigentlich? Immerhin geht die “Bravo Hits” inzwischen so ein kleines bisschen mit der Zeit und lädt sämtliche Releases for free auf Spotify hoch. Trotzdem kann die Kult-Reihe auf eine eingeschworene und zahlende Stammkundschaft zählen. Und damit dem allgemeinen Kollaps von CD-Verkäufen zumindest ansatzweise trotzen.

Die Frage “Wer kauft um Himmels Willen noch immer ‘Bravo Hits’-CDs!?” lässt jedoch noch immer Zehntausende Menschen in Mitteleuropa nachts nicht einschlafen. Ohne das Redaktionsbudget für eine Marktstudie oder die Telefonnummer einer Universitätsprofessorin für Konsumverhalten haben wir drei Theorien zu möglichen Kundensegmenten aufgestellt:

Theorie 1: Die Komplettisten

Late-Stage-Millenials, die in der frühen Jugend ihre Ex-Libris- und Musik-Hug-Gutscheine jeweils für die neue “Bravo Hits” verputzt haben. Bis ca. “Bravo Hits 61” (erinnert sich noch jemand an Duffys “Mercy”?!) konnten sie mit der Musik auch tatsächlich noch was anfangen. Inzwischen ist es aber zur reinen Gewohnheit geworden und dem selbst auferlegten Zwang, die Sammlung komplett zu halten. Ähnlich wie 46-jährige Männer, die noch immer zu jeder Fussball-WM Panini-Bildchen sammeln und deshalb schlimmstenfalls durch Lehrpersonen mit Besen von Pausenplätzen verscheucht werden. Ob eine komplette “Bravo Hits”-Sammlung einst die 3. Säule in der Altersvorsorge ersetzen kann, ist ungewiss.

Theorie 2: Die Automobilisten

Menschen mit einem Pendlerjob, die seit acht Jahren auf eine neue Karre sparen und deshalb noch immer einen CD-Wechsler im Autoradio eingebaut haben. Weil sie nicht wollen, dass auf der Hin- und Rückfahrt zum Arbeitsplatz der aktuelle Hit-Mix von Werbung für Möbelhäuser mit eigener A1-Ausfahrt unterbrochen wird, setzen sie auf den bewährten “Bravo Hits”-Silberling. Positiver Nebeneffekt: Man wird in der Bude nicht länger von der Auszubildenden ausgelacht, weil man BTS für eine Sandwich-Variante hält.

Theorie 3: Die Scheidungseltern

Das eigene Kind kommt nur jedes zweite Wochenende auf Besuch. Während der Heimfahrt zum anderen Elternteil will man die ohrenbetäubende Stille im Auto durchbrechen und irgendwie in die Gedanken- und Alltagswelt des vor sich hin brütenden Teenagers durchdringen. “Also dieser neue Träck von SZA ist ganz schön YOLO, nicht?”, klingt es dann hinter dem Steuer hervor. Und nachdem die Frage an einem peinlichen Schweigen zerschellt, wird hastig nachgeschoben: “Soll ich anmachen? Oder lieber etwas von Max Ava?” “Es heisst Ava Max”, sagt das Kind. Für den Rest der Fahrt sagt niemand mehr ein Wort.

Doch ganz egal, zu welcher dieser (oder komplett anderen) Gruppen man zählt: Wir wünschen viel Spass mit “Bravo Hits 121” - keep the Schulzimmerdisco dream alive!

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