Veröffentlicht am 09. April 2023

Wenn Musik von gestern die Charts dominiert

TV-Serien sind die neuen Mixtapes. Alte Klassiker werden von einem Millionenpublikum (wieder-)entdeckt und in höchste Chartpositionen getragen. Ein Verdienst von Frauen wie Nora Felder und Jen Malone.

Journalist

Versammelt euch ums Lagerfeuer, Kinder. Wir erzählen euch aus einer Zeit, als man neue Lieblingssongs entdeckte, wenn sie für euch auf ein mit Filzstift-Herzen verziertes Mixtape überspielt wurden. Oder ihr euch im Plattenladen an eine Vinyl-Scheibe der Talking Heads geklammert habt und der Verkäufer hinter seiner Zigarettenkippe meinte, ihr sollt doch auch mal «Drums & Wires» von XTC abchecken. Diese Ära liegt längst hinter uns und alle, die sie erlebt haben, sind inzwischen tot. Einzig Höhlenmalereien in Südfrankreich berichten noch davon.

Doch die Lust auf Lieder ist ungebrochen. Und es gibt jetzt in diesem Augenblick mehr davon als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Weltgeschichte. That’s just simple math! Die Entdeckungsreisen aber, die uns zur neuen Musik führen, sind inzwischen digital und deshalb weitaus weniger romantisch. Spotify-Playlists, TikTok-Lipsyncs, et cetera: Du fütterst den Algorithmus und der Algorithmus tischt dir auf. Bon appétit, save to favorites.

Doch es gibt noch ein weiteres Rezept, das ein junges Publikum auf den Geschmack von Altbewährtem bringt. Ein perfekt platzierter Song in einer TV-Serie kann Newcomer in Superstars verwandeln – oder aber vermeintlich in der Versenkung verschwundene Superstars wieder in die Mitte der Popkultur zurückschleudern. Und nicht nur die Gen Z blickt beim Einsatz eines unverwüstlichen Hits plötzlich hoch vom Handy, auch für all die Ü40s wirkt ein drei Jahrzehnte alter Song wieder so, als würde man ihn zum allerersten Mal hören: Wenn Wednesday Addams auf Netflix zu «Goo Goo Muck» der Cramps über den Dancefloor zuckt. Oder Linda Ronstadt in «The Last of Us» nach einer besonders heavy Episode die Ballade «Long Long Time» aus dem Autoradio singt.

Keinem Song war in den vergangenen Jahren eine grössere Renaissance vergönnt «Running Up That Hill» von Kate Bush. Prominent verwendet in der vierten Staffel von «Stranger Things», schaffte es der Track im Sommer 2022 auf Platz 1 der Single Charts unter anderem in UK und der Schweiz – 37 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung. Möglich machte diesen unverhofften Erfolg Nora Felder. Sie gilt als eine von Hollywoods einflussreichsten Music Supervisors. Als solche ist sie für den Soundtrack zahlreicher Erfolgsserien verantwortlich – unter anderem «Stranger Things» und «Wednesday».

Der Erfolgsfaktor eines gut kuratierten Soundtracks ist kein neues Phänomen – frage nur jemanden, der die CD zu «Pulp Fiction» im CD-Ständer in einer Kartonkiste im Keller hat. Für die Dauer eines Films oder einer Serienepisode investieren wir emotional in deren Figuren und Handlungen und sind deshalb besonders empfänglich, wenn auf dem Höhepunkt schliesslich der passende Song wie die Kirsche auf einen Cupcake droppt. Durch die sozialen Medien lässt sich dieses Gefühl jedoch inzwischen unmittelbar und beliebig individualisiert vervielfältigen. Und plötzlich geht eine 64-jährige Kate Bush viral, ohne dabei auch nur vom Sofa aufstehen zu müssen.

Ist für die grossen Song-Erfolge in Hollywood zuständig: Nora Felder
Ist für die grossen Song-Erfolge in Hollywood zuständig: Nora Felder

Kein Wunder, ist das Interesse von Hollywood und der Musikindustrie zur Zeit gross, das nächste «Running Up That Hill» in noch luftigere Höhen zu jagen. Dementsprechend gefragt sind Music Supervisors wie Nora Felder und Jen Malone. Für die erste Staffel «Yellowjackets» zündete Malone ein Feuerwerk aus 90ies-Jukebox-Hits und Alternative Darlings: Salt-N-Peppa und Mazzy Star, Ace of Base und Portishead. Ein Erfolgskonzept, das Felder aktuell für die zweite Staffel fortsetzt und unter anderem dem «Cornflake Girl» von Tori Amos eine zweite Runde im Rampenlicht beschert. Und ganz egal, ob man diesen Song zum ersten Mal oder nach langer Zeit wieder vernimmt: hinreissend bleibt hinreissend.

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