Veröffentlicht am 01. Juli 2022

Provinzkinder am Festival oder: Bier trichtern als politisches Statement

An Festivals treffen Gym-Bros und Säufer, Influencer und Nerds, Städter und Dorfkinder aufeinander. Letztere hält unser Autor für missverstanden und fordert weniger Kopfschütteln und mehr Verständnis für primitive Zeltplatz-Chaoten.

Journalist
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neil.9

neil.9 ist Frontmann der Band Bahnhofbuffet Chancental und selbst auf dem Land aufgewachsen. In seiner Kolumne beleuchtet er musikalische Themen durch die Brille von jemandem, der seine prägenden Jahre nicht in Clubs und an Raves verbracht hat, sondern in Dorfknellen mit Dartscheiben und Tischfussball.

Ab ans Bahnhoffbuffet!

Mein erstes Festival fand im 1200-Seelen-Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, statt. Headliner war wahrscheinlich eine AC/DC-Coverband und am Sonntagmorgen gab es ziemlich sicher Frühschoppen mit Kliby und Caroline oder dem lokalen Magier Beno Benino oder, falls das Budget für so einen Hochkaräter gereicht hat, Peach Weber. Das waren aber letzten Endes sowieso nur Trockenübungen für die richtigen Festivals in der grossen Stadt.

Mit 16 dann ins Sittertobel und da wurde ich für vier Tage zu der Sorte Mensch, über die reifere Festivalbesucher gerne die Augen verdrehen: Niveaulose Rüpel vom Land, die es sich in diesem quasi rechtsfreien Raum endlich erlauben, jegliche Manieren über Bord zu werfen und sich so daneben zu benehmen, dass im Vergleich sogar Gérard Depardieu wie Knigges Erbe aussieht.

«Heutzutage schlafe ich eher im Hotel als im Stroh.»

neil.9

Der Redneck-Clown mit der Urinpistole

Damals verbrachte ich zu viel Zeit mit einem Typen, den wir hier mal Markus nennen. Ein liebenswürdiger Idiot, der nach zwei, drei Dosenbier zu einer Art Redneck-Clown mutierte. Für Markus – und schon auch ein bisschen für mich, so viel Ehrlichkeit muss sein – ging es bei einem Festival nicht in erster Linie um die Performance auf den Bühnen, sondern viel mehr um die eigene Show im Camping-Bereich. Spätestens zwei Stunden nach Türöffnung trug Markus irgendeine völlig lächerliche Kopfbedeckung und sein Trademark-Cape, das er sich jeweils aus einer Wärmedecke bastelte.

Eines unserer Hauptkriterien bei der Platzwahl war, dass unser Pavillon direkt am Strassenrand liegen musste, damit wir die anderen Besucher:innen unterhalten, sprich: nerven, konnten. So machten wir uns Freunde, die genauso schnell zu Feinden wurden. Dass wir Urin in eine Wasserpistole gefüllt und Pasant:innen damit bespritzt haben, gehörte noch zu den harmloseren Streichen. Es war ein Massaker, für das ich mich an dieser Stelle entschuldigen möchte.

Heutzutage schlafe ich eher im Hotel als im Stroh und verbringe an Openairs tatsächlich mehr Zeit vor der Bühne als im Interdiscount-Campingstuhl. Eine gewisse Hassliebe fürs einfache Festival-Volk, so mühsam es auch sein mag, ist aber geblieben. Ein Erklärungsversuch.

neil.9 wünscht sich mehr Solidarität für Landkinder.
neil.9 wünscht sich mehr Solidarität für Landkinder.

Ein notwendiges Übel

(Disclaimer vorweg: Natürlich benimmt sich nicht nur die Landjugend an Festivals daneben. Es gibt auch sehr anständige Gäste, die aus dem Hinterland anreisen, genauso wie primitive Städter. In der Tendenz stimmt das aber schon, also lass uns einfach mal frech generalisieren.)

Stell dir ein Festival ohne Idioten vor. Wer organisiert das Flunkyball-Turnier? Wer ballert morgens um halb acht «Schrei nach Liebe» aus schrecklich übersteuerten Boxen und reisst damit das halbe Gelände aus dem Schlaf? Wer bringt die Dosenravioli und den Schnupftabak und was stellen die Barbetreiber mit ihrem Smirnoff-Ice-Vorrat an? Spätestens wenn du ein Sackmesser suchst, wirst du froh sein um die anspruchslosen aber naturerfahrenen Kollegen.

Der Punkt ist: Die Einfaltspinsel vom Land sind ein notwendiges Übel. Ohne sie sähe der Zeltplatz nicht wie eine charmant anarchistische Müllhalde aus, sondern wie eine Vernissage mit Cüpli und Kokain und früher oder später wäre uns prätentiösen Spassbremsen so langweilig, dass wir uns einen Strick aus Cocktailservietten drehen würden.

«Sich Bier durch einen Trichter reinzuschütten, ist albern.»

neil.9

Sind wir vielleicht eifersüchtig?

Gerade das destruktive Verhalten kann mit etwas Wohlwollen sogar als politisches Statement gelesen werden. Es ist die längst überfällige Rache des kleinen, unbedeutenden Dorftrottels an uns überheblichen Grossstadt-Hipstern. Wir mit unseren neumodischen Wertvorstellungen, unserem veganen Essen und unserem Club Mate. Und so erheben sich die Provinzkinder einmal im Jahr aus ihrem kulturellen Ödland und kotzen uns vor die Designer-Gummistiefel. Fair.

Vielleicht steckt in unserer Abneigung gegenüber Zeltplatz-Hooligans sogar ein Fünkchen Eifersucht. Ganz ehrlich: Sich Bier durch einen Trichter reinzuschütten, ist albern, aber einen gewissen Unterhaltungsfaktor kann man dieser Art von stumpfsinniger Dekadenz nicht absprechen. Und wer hat noch nie insgeheim darüber nachgedacht, dem schlafenden Kollegen Penisse ins Gesicht zu malen? Vielleicht triggert die primitive Ecke des Campingplatzes eine gewisse Sehnsucht nach dem unbeschwerten Kind in uns. Endlich wieder dumm und glücklich.

Deshalb plädiere ich für mehr Toleranz, für mehr Verständnis und Respekt gegenüber dem rüpelhaften Volk an Festivals. Für weniger Kopfschütteln und mehr Anerkennung. Und wenn du diesen Sommer an einer Horde Wilden vorbeigehst und sie dich mit Urin vollspritzen, sei doch einfach mal dankbar.

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