Veröffentlicht am 31. August 2022

Mit TikTok auf die 1 – darauf einen «Wildberry Lillet»!

Nicki Minaj und Nina Chuba haben gerade massive Hits – die man zuerst in Teilen bei TikTok und Co. hören konnte. Sehen wir hier einen Erfolgstrend in Sachen Musikpromotion?

Journalist
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Wer häufig in das bunte und manchmal etwas überfordernde Rabbit Hole TikTok hinabsteigt, fängt sich in schöner Regelmässigkeit Ohrwürmer ein, die man nicht mehr aus der Birne kriegt. Das liegt natürlich daran, dass die Plattform gerne die besonders einprägsamem Hooks gross macht. Vor allem, wenn sie in Verbindung mit attraktiven Challenges daherkommen. Wie mächtig ein TikTok-Hype sein kann, zeigt sich an zahlreichen Beispielen. Wie nachhaltig diese Hypes sind, ist natürlich eine ganz andere Frage. Aber es mehren sich die Fälle, in denen Songs, die vor allem über TikTok viral gehen, auch reale Charts-Erfolge einfahren – oder für vollere Konzerte sorgen. Zwei Beispiele aus jüngerer Vergangenheit: die junge in Berlin lebende Sängerin Domiziana wurde durch eine gepitchte Version ihrer Debüt-Single «Ohne Benzin» 105 Tage nach Release die Nummer 1 in den deutschen Singles-Charts. Und der kanadische Songwriter Patrick Watson findet auf seinen Touren auf einmal ein bedeutend grösseres Publikum, weil sich halb TikTok in seinen uralten Song «Je te laisserai des mots» verliebt hat.

«Super Freaky Girl»: Mit TikTok-Snippet auf Platz 1 der US-Charts

Dank Nicki Minaj in Amerika und Nina Chuba im deutschsprachigen Raum gibt es nun zwei gute Beispiele, die belegen, dass ein Vorab-Release auf TikTok sogar die Kraft hat, einen Song an die Spitze der Charts zu schiessen. Kürzlich sprang «Super Freaky Girl» von Nicki Minaj aus dem Stand auf die 1 der amerikanischen Billboard Charts. Teile des Songs waren schon im Juli zuerst auf TikTok und auch auf Instagram zu hören – verbunden mit einer Dance Challenge von Nicki Minaj. Der Song, der übrigens Rick James‘ Hit «Super Freak» samplet, wurde mittlerweile über 250.000 Mal bei TikTok verwendet. Als der offizielle Release am 12. August erfolgte, katapultierten die Streams auf anderen Plattformen die Nummer bis auf die 1. Es war die dritte Top-Billboard-Platzierung in Nicki Minajs Karriere. Zum Erfolg beigetragen hat sicher auch die Attitüde des Songs. Im Refrain heisst es: «He want a F-R-E-A-K (freaky girl) / F-R-E-A-K (freaky girl)». Das passt gut zur Inszenierung vieler User:innen und zum betont freakigen Tempo von TikTok. Erstaunlich ist an diesem Beispiel auch die Doppelmoral der Plattform, die oft recht willkürlich Inhalte sperrt, wenn es um Politik oder Sexualität geht. Dass Nicki Minaj explizite Lyrics singt und oft erstaunliche Metaphern oder Worte für sexuelle Handlungen findet, ist ja allgemein bekannt – da ahnte man sicher schon, dass nach dem Refrain – der offen lässt, wie das «freaky» sein ausgelebt wird – dann so eine Strophe kommt, die bei TikTok sofort zensiert worden wäre: «I can lick it, I can ride it while you slippin' and slidin' / I can do all them little tricks and keep the dick up inside it / You can smack it, you can grip it, you can go down and kiss it / And every time he leave me 'lone, he always tell me he miss it.»

«Wildberry Lillet»: Ohrwurm auf Eis

Im deutschsprachigen Raum gab es in den letzten Monaten bei TikTok kein Entkommen vor dem Refrain von Nina Chubas «Wildberry Lillet». Die junge Sängerin und Schauspielerin droppte ebenfalls schon Wochen vor Release die Hook des Songs in Verbindung mit einer lässigen kleinen Choreo. «Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel / Zum Frühstück Canapés und ein Wildberry-Lillet», singt sie unter anderem in zahlreichen Videos und fragt immer wieder, ob sie den Song veröffentlichen solle oder ob man bereit sei.

Sie selbst, ihr Team und ihr Label waren es zu diesem Zeitpunkt natürlich schon längst. Überhaupt ist Nina Chuba in einer sehr guten Position für diese Veröffentlichungstaktik: Während andere Artists oft überfordert wirken, wenn sie plötzlich auch noch TikTok machen und die Regeln der Plattform verstehen müssen, ist Nina Chuba schon fast seit Beginn dabei und eine ebenso gute TikTok-Influencerin wie Sängerin. Seit Jahren haut sie sympathische Videos raus, die von Outfit-Checks, über Blicke hinter die Kulissen im Studio bis zu amüsanten Rants über Alltagsdinge reichen. Von den mittlerweile über 420.000 Follower:innen brachte sie also schon eine ganze Menge mit. Trotzdem klingt der Song, ähnlich wie «Super Freaky Girl», durchaus auf die TikTok-Welt getrimmt. Der Refrain ist brutal catchy und wie für die TikTok-Aufmerksamkeits-Spanne auf der FY-Page gemacht, während die Lyrics einen eskapistischen, selbstbewussten, glamourösen Vibe treffen, der gut zu vielen privat geteilten Inhalten passt

Zu Verlängerung des Hypes setzte Nina Chuba dann auf ein Feature, das schon bei Domizianas «Ohne Benzin» gut funktioniert hat: Sie lädt zu einer «Open Verse Challenge » ein, und bietet ein Video an, das man perfekt «stitchen» kann. Während sich also Fans, angehende Rapper:innen oder Sänger:innen präsentieren, hampelt Nina motivierend in der anderen Bildschirmhälfte herum. Ein cleverer Move, der allerdings auch Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt. Zum Beispiel, wenn ein junger Gangster-Rapper die Attitüde des Songs mit härteren Drogen als Wildberry Lillet zusammenbringt. Ausserdem gibt es Beiträge, die sehr charmant darauf hinweisen, dass grosse Teile der Melodie bei Peter Fox‘ «Haus am See» geborgt sein könnten.

Trotzdem: In all den hier genannten Fällen ging der Plan auf, TikTok bewusst als Marketing-Tool zu nutzen. TikTok selbst half dabei sicher gerne, denn die zum chinesischen Konzern ByteDance gehörende Plattform umwirbt die Musikwelt schon eine ganze Weile, ermöglicht und bezahlt aufwendige Konzert-Streams, hofiert auf grossen Festivals wie dem Rock am Ring in einer eigenen Lounge Musiker:innen und bringt immer wieder gerne reichweitenstarke TikTok-Creators mit der Musikwelt zusammen. Auch der geheim gehaltene Algorithmus wird Songs und Clips wie diese sicherlich pushen. Bei Nina Chuba endete das alles übrigens ebenso wie bei Nicki Minaj auf Platz 1 der Charts ihres Heimatlandes – wo «Wildberry Lillet» endlich das unerträglich dumme «Layla» von der Spitze kickte.

Nina Chubas Song beweist ungewollt allerdings auch ein wenig die Schwächen einer solchen Kampagne. Wer dann nämlich am Ende den kompletten Song hört, kommt schnell zu der traurigen Erkenntnis: Viel mehr, als der bereits bekannte Teil ist an dem Song auch nicht dran. Man kriegt den Refrain und kleine Abwandlungen davon einfach dermassen oft um die Ohren geschmettert, dass die frühe Begeisterung schnell ins Genervt-Sein kippt. Das kann man aus vielen Kommentaren unter den Clips deutlich ablesen.

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