Veröffentlicht am 30. Oktober 2022

Marterias Amazonas-Doku: Popstar sein ohne Aktivismus – darf man das noch?

Marteria hat den Regenwald besucht. Nicht um lila Wolken zu beobachten, sondern um eine Dokumentation über Naturschutz und die Artenvielfalt des Amazonas zu drehen. Neben seiner ehrenvollen Aufgabe als Umweltaktivist ist der Rostocker Rapper aber in erster Linie Musiker und tourt am 15. Dezember auch nach Zürich. Wohin führen all diese Reisen? Fühlen Popstars sich gezwungen, die Welt zu retten?

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Eine Stimme so dunkel wie die tropische Nacht. Dabei sind die Nächte mit Marteria so gleissend hell. Da sind grelle Scheinwerfer, da sind leuchtende Augen, die den deutschen Rapper aus der Menge ekstatisch fixieren. Münder, die jede Zeile kennen, Körper, die keinen Stillstand kennen. Marteria geht auf Vollkontakt. So heisst auch die Tour, die ihn im Dezember mit seinem zehnten Studioalbum «5. Dimension» unter anderem nach Wien, München und Zürich bringt. Mehrdimensional zu sein – exakt das erwartet man heute von Künstler:innen jeglichen Genres. Im März noch stapfte Marteria durch den Amazonas, um die Naturschutz-Dokumentation «Der Amazonas-Job – der Wald ist nicht genug» zu produzieren, die am 17. und 18. November im Volkstheater Rostock Premiere feiert. Der komplette Erlös geht an den Verein Plant for Future, eine soziale Plattform, die das Ziel verfolgt, intakte Ökosysteme zu schützen und und bereits verwüstete Flecken der Erde zu renaturieren.

Bald singen wieder alle Bob Geldorfs «Do They Know It’s Christmas». Seit Mitte der Achtziger schallt jährlich ein mahnend abgemischtes Künstler-Kollektiv durch die Weihnachtszeit. Paul McCartney! Sting! Phil Collins! Geld zur Bekämpfung der Hungersnot in Äthiopien wurde eingesammelt. Von den grössten Musiker:innen dieser Zeit. Und den reichsten. Pop und Kapitalismus bandeln immer mehr mit politischen Botschaften an. Wenn man nicht Teil der Lösung ist, ist man Teil des Problems. Ohne Meinung, keine Karriere.

Ohne Charity, kein Celebrity

Nun ist Marten Laciny, wie Marteria heisst, wenn er auf seinem Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern die Schafe schert, kein Prestige-Naturmensch. Er ist Sohn eines Seemanns, seine neue Droge ist das Angeln. Das Herz scheint so rein wie die Luft im Norden Deutschlands. So rief er zu Spendenaktionen für Clubs, die damals unter den Folgen der Pandemie zu leiden hatten, auf, prustete sich durch Kinderschutz-Spendenläufe und unterstützt die Initiative Viva Con Agua, die sich für sauberes Trinkwasser in der Welt einsetzt. Klar, warum auch nicht: Wenn Marteria die schwere Stimme erhebt, rasten alle aus. Und machen alles mit.

Popstars müssen die Welt nicht retten, aber versuchen könnten sie es doch

Der Celebrity-Kosmos verfügt nun mal über eine Plattform. Aber eine solche Reichweite zu haben, bringt eine gewisse Verantwortung – oder sagen wir lieber: Verpflichtung – mit sich. Da entsteht Druck. Druck, etwas sagen zu müssen. Eine Meinung zu haben. Aktivistisch zu sein. Aber ist es notwendig, daraus eine Marke zu machen?

Während der anhaltenden Proteste gegen die rassistischen Morde an schwarzen Opfern wie George Floyd und Breonna Taylor im Jahre 2020 twitterte Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe: «Ich betrachte mich nicht als Aktivistin. Ich habe eine Plattform. JA, ABER es gibt Menschen, die DAS WIRKLICH TÄGLICH LEBEN. Ich möchte ihren Stimmen Gehör verschaffen.» Sich selbst lediglich als Mittlerin zu sehen, wirkt fast bescheiden, wenn man dieses Bewusstsein ihren Kolleginnen gegenüberstellt. Da ist Popqueen Beyoncé, die uns in den Aktivismustrend 2015 bei den MTV Music Awards mit einem fetten «Feminist»-Schriftzug quasi einführte und 2016 mit «Lemonade» ein zutiefst politisches Popalbum auf den gierigen Markt warf. Da ist Lady Gaga, deren Engagement für die Rechte von Aidskranken und LGBTIQ sich in ihren Musikvideos, Statements und ihrer Born-this-way-Stiftung (also quasi überall) zeigt. Dagegen wieder ganz sanft: Dua Lipa, die dazu aufruft, vor den aktuellen Protesten im Iran die Augen nicht zu verschliessen und mit Solidaritätsbekundungen versucht, zu sensibilisieren.

Wer sich mit Pop-Aktivismus also nicht brüstet...

... ist schlichtweg ignorant und somit irrelevant? Immerhin folgen wir Künstlerinnen und Künstlern auf Schritt und Tritt. Auf Instagram, TikTok und Twitter – wir wissen, wo sie waren. Und wo sie nicht waren. Wir verziehen das Gesicht, wenn sie – wie Taylor Swift im Jahr 2017 – nicht am Women’s March teilnehmen, denn: Das ist unsolidarisch. Weil die anderen waren alle da. Popstars ohne Message als oberflächliche und eindimensionale Massenunterhalter:innen zu bezeichnen, wäre voreilig. Denn keine Meinung zu haben, ist auch eine Meinung. Reichweite nutzen – gerne! Lieber Popstar als Aktivist sein wollen? Auch ok. Beides können und wollen? Nur zu! Und wenn Marteria dazu in den Amazonas jettet, steigen wir klimafreundlich in den Zug nach Rostock zur Premiere. Oder streamen die Natur-Doku ganz ökologisch auf dem Sofa.

Oder: kaufen ein Ticket für die «Vollkontakt»-Show in Zürich am 15. Dezember 2022 in The Hall.

Tickets gibts HIER.

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