Publié le 20. décembre 2022

Ist «Do They Know It’s Christmas?» noch vertretbar?

Die Erkenntnis, dass viele Songs nicht gut gealtert sind, trifft auch den ein oder anderen Weihnachtsklassiker. Nun fragt sich das Internet zu Recht: Sollte man einen rassistischen Song mit kolonialistischen Gutmenschen-Tönen wie «Do They Know It’s Christmas?» aus dem Jahr 1984 noch hören oder gar im Radio spielen?

Journalist
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Eines meiner Lieblingsbücher der letzten Jahre zum Thema Popkultur ist der Essay-Band «Under My Thumb: Songs that hate women and the women who love them». Darin schreiben feministische Musikerinnen über Popsongs, die sie lieben – deren Texte aber zutiefst sexistisch, misogyn und/oder chauvinistisch sind. Man muss diese Songs natürlich im Kontext ihrer Zeit bewerten – aber die Erkenntnis bleibt: Viele Songzeilen sind nicht gerade gut gealtert. Und: Der Frauenfeindlichkeits-Level war noch um einiges höher als heute. Wobei er auch heute in vielen Genres noch sehr stark ausgeprägt ist – von Malle-Schlager bis Deutschrap. Das Buch «Under My Thumb» dokumentiert sehr schön, wie gross das moralische Dilemma sein kann, wenn man problematische Songs liebt, die das eigene Leben – unabhängig vom Inhalt – prägten. Trotzdem ist es richtig und wichtig, immer mal wieder auf diese Lieder und ihre Texte zu schauen, gerade weil man vielleicht im Englischen nicht ganz genau zuhört.

«Band Aid»: Trostpflaster mit Bono, Sting, Paul Weller u. a.

Der kleine Exkurs samt Buchtipp führt nun direkt zum Thema dieses Textes: In den letzten Tagen schauten viele Menschen nämlich sehr genau auf einen vermeintlichen Weihnachtsklassiker, der im Kern zutiefst herablassend und rassistisch ist und Teile seiner Fans vor ähnliche Fragen stellt. Darf ich das noch ruhigen Gewissens abfeiern? Es handelt sich dabei um die «Band Aid»-Hymne «Do They Know It’s Christmas?». Ein Artikel des Online-Magazins Medium vom Blogger und Journalisten Indrajit Samarajiva knöpft sich dabei Zeile für Zeile jene Star-Ansammlung vor, die 1984 Geld für eine Hungersnot in Äthiopien sammelte. Angeführt von Bob Geldof (der ein Jahr später auch das Wohltätigkeitskonzert «Live Aid» organisierte) und Midge Ure, sangen und musizierten folgende Popstars: Robert «Kool» Bell von Kool & The Gang, Bono und Adam Clayton, von U2, Boy George, Bananarama, Heaven 17, Spandau Ballet, Duran Duran, George Michael, Status Quo, Sting, Paul Weller und noch ein paar andere. Eingespielt und dokumentiert wurde die Nummer am 25. November, veröffentlicht am 3. Dezember 1984. Der Song erreichte in 13 Ländern, darunter auch die Schweiz, Platz eins – und schafft es seitdem alle Jahre wieder mal zu Weihnachten in die Charts. Während der Aufnahmen entstand auch dieses ikonische Video:

Äthiopien ist IN Afrika – nicht Afrika

Darin sieht man fürchterlich betroffene, weisse Menschen, die sich alle ganz fest um Afrika sorgen. Genauer: um Äthiopien, das von 1983 bis 1985 mit einer Dürre und einer daraus resultierenden Hungersnot kämpfte. Der Name des Projekts war ein Wortspiel: ein «band aid» ist ein Pflaster, das Bob Geldof auf die Wunde des Landes kleben wollte. Mochte das Ziel auch ehrenwert sein – und tatsächlich wurde viel Geld für einen guten Zweck gesammelt – waren die so betroffen gesungenen Lyrics schon damals eine ziemlich einseitige Sache, die zudem aus der Position der Überlegenheit vorgetragen wurden. Das merkt man schon am Titel, den man recht flapsig als «Wissen die überhaupt, dass Weihnachten ist?» übersetzen kann. Wenn man bedenkt, dass viele Länder Afrikas vor allem mit den Folgen des weissen Kolonialismus kämpfen, ist die nicht wirklich empathische Stossrichtung reichlich daneben.

Das meint auch Indrajit Samarajiva, der in seinem Medium-Artikel einige Zeilen auf sehr bissige Weise auseinandernimmt. Grundsätzliches Problem des Songs: Äthiopien – ein vergleichsweise kleines Land auf diesem grossen Kontinent Afrika wird fast 1:1 mit ganz Afrika gleichgesetzt – was im Song, aber auch in der Kommunikation der Aktion deutlich wurde. Die erste Strophe macht ausserdem ein deutliches «Wir» gegen «die anderen» auf. Boy George singt zum Beispiel: «But say a prayer / Pray for the other ones / At Christmas time it’s hard.“ Simon LeBon von Duran Duran meint dann: «But when you’re having fun / There’s a world outside your window / And it’s a world of dread and fear.“ Sting, immer schon ein Kandidat für Over-the-top-Momente ergänzt: «Where the only water flowing / Is the bitter sting of tears.» Bevor Bono drei Zeilen später den ultimativen Dick Move bringt und allen Ernstes singt: «Well tonight thank God it’s them / Instead of you.» Halleluja!

«Man kann sagen, dass das alles eine Metapher ist, aber was vermittelt die Metapher?»

Indrajit Samarajivas Fazit zum Song: «In diesem Lied geht es also um eine Hungersnot in Äthiopien, aber er verallgemeinert sie auf ganz Afrika. Ein schrecklicher Ort, an dem nichts wächst, an dem es kein Wasser gibt (ausser Tränen) und an dem niemand weiss, dass es Weihnachten ist. Und es schneit nicht. Ich meine, das ist alles falsch. Es schneit in Afrika, wenn auch nicht sehr viel. Auf dem Kontinent wachsen tatsächlich Lebensmittel, es gibt Wasser, und Nordafrika feierte als Teil des Römischen Reiches schon Jahrhunderte vor England Weihnachten. Vielleicht haben sie an die Antarktis gedacht? Man kann sagen, dass das alles eine Metapher ist, aber was vermittelt die Metapher? Dass Afrika ein trostloser, dunkler Ort ist, den die weissen Männer gemeinsam retten müssen?» Ähm. Wenn man genau hinhört, muss man sagen: Ja, genau das.

Bevor man mir hier jetzt wieder mit «Cancel Culture» – diesem ekligen rechten Kampfbegriff – kommt und mir die Ohren vollheult: Nein, ich werde es als schnöder Musikjournalist niemandem verbieten wollen, diesen Song zu hören. Aber man muss und darf feststellen: Er ist das, was eure Kinder vor ein paar Jahren mal kurz «cringe» nannten, er ist überheblich, rassistisch, selbstbesoffen, ignorant und einseitig. Aber eben auch catchy und hymnisch. Da mache jeder draus, was ihm gefällt. Ich persönlich kann gut ohne diese Nummer leben und habe eine schöne Weihnachtsplaylist, die mich gut durch die Feiertage bringt. Und wenn ich mal Bock auf das ikonische Musikvideo habe, dann schau ich lieber die «Bad Cover Version» davon, die sich Pulp und ein paar Musiker-Doubles ausgedacht haben. Fröhliche Weihnachten – in London, Afrika und anderswo!

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