Das erste Open Air Festival der Schweiz war…?
Wir unterbrechen das Sommerprogramm für eine kurze Geschichtsstunde.
Ob du am ZOA City eine Mücke aus deinem Champagnerglas grübelst oder dir drei Tage Schlamm vom OpenAir St. Gallen aus der Unterwäsche windest: Die Festival-Saison wirbelt aktuell durch die Schweiz wie Ruben Vargas durch die italienische Verteidigung. (Schoololooloooo!)
Doch wie hat eigentlich alles angefangen? Wann und wohin schnürten junge Menschen in diesem Land zum ersten Mal ihre Hochsommer-Stiefel und pilgerten damit vor eine Freiluft-Konzertbühne? Für Geschichtsbücher, in denen wenig Platz ist, lautet die Antwort: 1972, Folkfestival Lenzburg. Doch weil wir etwas mehr Webspace haben, schreiben wir ein «Ja, aber…» dazu.
Die Vorvorläufer
Bereits in den 1960er Jahren bildeten sich, inspiriert von den amerikanischen Hippiebewegungen, in Zürich und St. Gallen sogenannte Love-Ins. An diesen mehrtägigen, relativ spontanen Happenings versammelten sich Hunderte Jugendliche, musizierten gemeinsam, lauschten Bands wie The Minstrels und taten so, als wären die Grashalme in ihren Mundwinkeln super verbotene Marihuanazigaretten. Das grösste dieser helvetischen Love-Ins fand im August 1967 statt, als um die 3’000 Personen in die Zürcher Allmend pilgerten. Zwei Jahre später nahmen die Blumenkinder das Sittertobel in Beschlag.
1967 gründete Claude Nobs in Montreux zudem das Jazz Festival, das zu diesem Zeitpunkt aber noch überwiegend reine Jazz-Combos im Kursaal des Casinos auftreten liess. Den ersten Versuch, ein tatsächliches Musikfestival unter freiem Himmel zu organisieren, wagte das Open Air Bischofszell 1971 – und musste wegen Regen kurzfristig mit seinem Headliner Krokodil in eine nahegelegene Turnhalle ausweichen. Nichtsdestotrotz findet der Thurgauer Traditionsanlass bis heute statt.
Ein Jahr später dann die erfolgreiche Premiere. Die Zürcher und Berner Folkszenen kreuzten für die Organisation des Folkfestivals Lenzburg ihre Gitarren und lancierten einen Anlass, der in den kommenden Jahren weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen und Wohlklang sorgte.
Der grosse Burgfrieden
In der malerischen Kulisse einer Ritterburg – die später selbst von Acts aus England neidisch bestaunt wurde – fand am 2. Juli 1972 das erste offizielle Open Air der Schweiz statt. 675 Tickets wurden verkauft. Mitinitiator Dani Perret eröffnete den Anlass mit einem Dudelsack, begleitet von Percussion. Das Line-up bestand überwiegend aus lokalen Talenten sowie dem englischen Folk-Duo John Pearse und Olivia Lyons.
Aufgrund des beschwerlichen Aufstiegs zur Burg konnte umständliches Equipment nur schwer transportiert werden. Die meisten Acts beliessen es deshalb bei Streich- und Zupfinstrumenten. Zudem dauerten die meisten Konzerte nicht mehr als 15 Minuten.
In den kommenden Jahren machte sich das Folkfestival Lenzburg als schillernde Werkschau der nationalen und internationalen Folkszene einen Namen. Seine Rückbesinnung auf musikalische Traditionen wurde vom historischen Ambiente perfekt untermauert. Bereits im dritten Jahr gaben sich die irischen Folk-Legenden Planxty die Ehre. Hannes Wader, Toni Vescoli und Dauergast Roy Bailey waren weitere prominente Namen in den Line-ups.
In der Lenzburg wurde Schweizer Folkmusik etabliert und Schweizer Volksmusik neu interpretiert. Durch Tanzgruppen und Combos aus aller Welt kam das Publikum in Berührung mit Musik aus Südamerika, der Türkei, Tibet und dem Appenzell. Zudem förderten die Organisatoren konsequent weibliche Künstlerinnen, als diese auf Schweizer Bühnen noch eine Seltenheit waren.
1977 gründete Fredi Hallauer, der bis dahin jeweils die Musiker:innen am Folkfestival Lenzburg betreute, das Gurtenfestival. Der kleine Bruder wurde schnell zur grossen Schwester, zumal das Folkfestival aufgrund seiner baulichen Gegebenheiten stets ein überschaubarer Anlass blieb. Doch mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts hatte sich auch der Geschmack der Jugend geändert. 1980 wurde in Zürichs Strassen mit Steinen geworfen statt mit der Wandergitarre unter einem Baum gesessen. Und da die Lenzburg in jenem Jahr ohnehin renoviert wurde, endete damit die Geschichte des ersten Open Air Festivals der Schweiz.
Zahlreiche Audioaufnahmen der Konzerte haben jedoch überlebt und sind online in einem Archiv abrufbar. Also einfach auf den Balkon sitzen, Füsse hochlegen, Audiofiles abspielen und sich fühlen wie 1974 in der friedlichsten Ritterburg der Welt.