Veröffentlicht am 12. Mai 2022

Wie sehen die Konzerte der Zukunft aus?

ABBA schicken bald Avatare auf die Bühne, Travis Scott zerlegt das Game „Fortnite“, die Metaverses brummen und die Pandemie zeigte uns, wie Gigs auch virtuell zum Erlebnis werden. Wir schauen, welche dieser Konzepte zukunftsfähig sind.

Journalist
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Bühne beim digitalen Festival Tomorrowland Around The World

Endlich geht wieder was auf den Bühnen dieser Welt! Wer sich wie der Autor dieser Zeilen kürzlich mit hunderten schwitzenden Menschen bei den IDLES im Moshpit schubste – zum ersten Mal seit über zwei Jahren – weiss natürlich, dass ein Konzerterlebnis durch keine virtuelle Erfahrung zu ersetzen ist. Trotzdem muss man feststellen: Je länger Publikumskonzerte pandemiebedingt unmöglich wurden, desto besser wurden die Angebote, die Live Events auf die heimischen Tablets, Computer und Smart-TVs brachten. Lasst uns in diesem Longread auf ein paar Beispiele schauen, die entweder bleiben oder die Möglichkeiten eines Konzertes erweitern werden.

Das In-Game-Konzert

Dieses Konzept dreht die Bedeutung des Wortes «live» ein wenig um die eigene Achse: Wenn eine Band in einem Comupterspiel zu sehen ist, dann spielt sie im strengen Sinne natürlich nicht live. Diese Parts müssen teilweise über lange Zeiträume programmiert und designt werden, und selbst wenn die Musik dann «live» klingt, ist sie natürlich eine Ton-Aufnahme, die entsprechend visualisiert wird. Wer allerdings zum Beispiel erlebt hat, wie der Rapper Travis Scott im April 2020 das Videospiel «Fortnite» enterte, spürte schon eine Euphorie unter den Gamer:innen, die vielleicht nicht mit dem Geschrei vor einer realen Bühne zu vergleichen ist, aber trotzdem immersiv ist. Scott war nach dem DJ Marshmello der zweite grosse Act, der sich mit der Software-Schmiede Epic Games zusammentat. Über einen Zeitraum von zwei Tagen hatten Spieler die Chance seinem Event beizuwohnen. Scott erreichte nach Angaben des Labels über zwanzig Millionen Menschen – die in keine Konzerthalle der Welt gepasst hätten. Was die aktuellen Beispiele – in Spielen wie «Fortnite», «Grand Theft Auto» oder «Minecraft» –auszeichnet, ist, dass sie ein besonderes Gemeinschaftsgefühl erzeugen, das vor allem entsteht, wenn eine Gaming Community einen Act sieht, der den Spieler:innen nahe ist.

Travis Scott zu Gast im Videospiel «Fortnite»

Prognose: Dieses Format ist definitiv gekommen, um zu bleiben und wird mit fortschreitender, technischer Entwicklung sicherlich noch einige Überraschungen parat haben. Ausserdem gibt es hier eindeutige Überschneidungen zu diversen Metaverse-Konzepten.

VR-Konzerte im Metaverse

Recht artverwandt sind die Konzerte und Live-Aktivitäten auf den Plattformen, die heutzutage als «Metaverse» bezeichnet werden. Eigentlich funktionieren sie exakt wie In-Game-Konzerte, allerdings setzen diese Plattformen eben eher auf Community-Aspekte als auf Gaming-Action. Und einige von ihnen kann man per VR-Brille bereisen. Hier liessen sich ein gutes Dutzend Beispiele finden, denn momentan kämpfen diverse Plattformen darum, sich zu etablieren – das von Ex-Facebook-nun-Meta-Chef Zuckerberg entwickelte «Metaverse» dürfte dabei wohl die grössten finanziellen Mittel haben. Anfang des Jahres buchte man dort die Foo Fighter für ein virtuelles Konzert – das allerdings aufgrund technischer Schwierigkeiten beim Zutritt zu einem kleinen Desaster wurde. Ende des Monats wird sich ausserdem die Indie-Plattform Yabal mit einem grossen Festival präsentieren, auf dem zum Beispiel das deutsche Duo Ätna spielt. Electronic Beats von der deutschen Telekom wiederum baute in der Roblox-Welt einen Club, in dem Boris Brejcha seinen harten Techno «auflegt». Ebenfalls vorne mit dabei ist Decentraland, wo der Zürcher Rapper Didi im Januar als erster Künstler aus der Schweiz «live» zu sehen war. Firmen wie AmazeVR und das Festival Tomorrowland (siehe Artikelfoto) wiederum bauen gleich ihre eigenen virtuellen Konzertwelten und wollen Virtual-Reality-Events, die man mit VR-Brillen im heimischen Wohnzimmer erleben kann, langfristig etablieren.

Das digitale Festival «Tomorrowland - Around the World 2021»

Prognose: Die Tech-Welt und ihre Investoren setzen auf die Metaverse-Idee, ob sie aber wirklich die gewünschte Attraktivität entwickelt, steht noch in den Sternen. Bisher hat man jedenfalls das Gefühl, es sei eine Welt der Tech-Nerds und der Gamer:innen – da diese aber schon recht riesig ist, gibt es zumindest schon mehr als ein Grundrauschen.

Das gepimpte Streaming-Konzert (mit oder ohne Publikum)

Als alle Konzertlocations im Frühjahr 2020 schliessen mussten, dauerte es nicht lange, bis die ersten Streaming-Gigs aufpoppten. Viele Künstler:innen nutzten dafür die gängigen Plattformen wie TikTok, YouTube und Instagram Live. Beim grossen Spenden-Festival «Global Citizen» konnte man sogar im linearen Fernsehen bei fragwürdiger Bildqualität Weltstars beim Singen im Garten zuschauen, wie hier zum Beispiel Elton John. Konzerte dieser Art werden in naher Zukunft wohl erst bei der nächsten Pandemie wieder eine Rolle spielen und niemals eine ernsthafte Konkurrenz zum richtigen Gig sein. Auch als Promo-Tool für Marken oder Künstler:innen machen sie Sinn – wenn man zum Beispiel einen exklusiven Gig an einem exklusiven Ort mit einem realen und einem Online-Publikum teilen will. Anders steht die Sache in Südkorea, wo es nur wenige Wochen dauerte, bis das schon immer sehr auf Vermarktung und Innovation setzende System K-Pop zeigte, wo der Reiz und der Mehrgewinn des Konzepts liegen. Die Streaming-Events, die in Seoul produziert wurden, laufen unter dem Namen «Beyond LIVE». Sie wurde 2020 in den ersten Monaten der Pandemie von der Produktionsfirma SM Entertainment ins Leben gerufen, in Kooperation mit dem südkoreanischen Tech-Giganten Naver, der den Videostreaming-Service V Live betreibt. Die Koreaner zeigen mit Events dieser Art, dass Online-Konzerte durchaus das Potential haben, eine relevante Grösse zu bleiben – auch in «normalen» Zeiten. Gerade die K-Pop-Acts werden auf der ganzen Welt verehrt, Welttourneen sind lang, logistisch aufwendig und zehrend – da können solche, übrigens kostenpflichtigen, Gigs die Wartezeit gut überbrücken. Vor allem, weil bei diesen teils live und teils vorproduzierten Shows die technische Komponente hinzukommt: Durch den Einsatz von Augmented Reality sind auf einmal Effekte möglich, die man in einer Konzertarena niemals hinbekommen würde. Ausserdem können die User:innen stets auf die Community-Tools von V Live zurückgreifen und stehen im stetigen Austausch. Gute Beispiele für Shows, die mit Publikum schwer umzusetzen sind, kamen der weil auch von Nick Cave, der sich «allein» (mit Kamerateam) im Londoner Alexandra Palace ans Klavier setzte und von Dua Lipa, die in «Studio 2054» ihr Album als aufwendig choreografierten Livestream inszenierte – und damit ungefähr neun Millionen Menschen erreichte.

Werbefilm für «Beyond LIVE : A new era of live»

Prognose: Hier gibt es vielleicht das grösste Potential. Gerade die grossen K-Pop-Acts wie BTS oder Blackpink haben so riesige Fanscharen, dass selbst Stadionkonzerte innerhalb von Sekunden ausverkauft sind. Wer hier virtuelle Zugangsmöglichkeiten anbietet, vergrössert das Publikum beträchtlich, selbst wenn es natürlich im Vergleich nur ein «Trostpflaster» ist und viele Fans lieber live dabei wären. Wenn man diese Streams dann wiederum mit speziellen Effekten aufpimpt, die man im Stadion nicht zu sehen bekommt, gibt es auch für die Online Crowd einen reizvollen Zugewinn.

Das simulierte Konzert

Ende des Monats steht ein weiterer Meilenstein bei diesem Thema ins Haus: Die Shows von ABBA zu ihrem Comeback-Album «Voyage» weisen direkt in die Zukunft des Live-Entertainments. Ab dem 27. Mai wird die neu gebaute ABBA Arena in London im Queen Elizabeth Olympic Park bespielt. 3000 Zuschauerinnen und Zuschauer können dann jeden Abend dem ABBA-Zauber erliegen – wobei Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid nicht persönlich auf der Bühne stehen werden, sondern in Form von täuschend echten digitalen ABBAtaren die ABBA das Geschenk der ewigen Jugend ermöglichen. Für die Umsetzung hat man sich die erste Garde des Entertainments an Bord geholt. Die Musik des Abends wird dabei jedoch nicht komplett live aufgeführt: Zwar spielt eine zehnköpfige Band live, aber die ABBAtare werden vorher aufgezeichnete Tonspuren von sich geben – eventuell begleitet von Live-Backgroundgesang. Man hat es hier also eher mit einem simulierten Konzert zu tun, das aber eine interessante Blaupause für den Umgang mit alten, verstorbenen Held:innen der Musikwelt sein könnte. Das hatte man allerdings schon von der Hologramm-Technik behauptet, die den 1996 verstorbenen Tupac Shakur 2012 an der Seite von Snoop Dog auf die Coachelle-Hauptbühne brachte. Das ABBA-Konzept könnte trotzdem der nächste Step sein – zwar wird auch das ein echtes Konzert niemals ganz ersetzen, aber wenn die Illusion gut gemacht ist, könnte das Publikum sich nur zu gerne der Illusion hingeben. Eine Alternative gibt es ja eh nicht mehr im Falle von ABBA. Björn Ulvaeus von ABBA weiss übrigens auch nicht so recht, ob die Show gut ankommen wird. Er verriet kürzlich in einem Interview: «Es ist ein immenses Risiko, und die meisten Leute, mit denen ich spreche, wissen das überhaupt nicht zu schätzen. Sie sagen: ‚Oh, es wird schon gut gehen.‘ Manchmal wache ich aber um vier Uhr morgens auf und denke: ‚Was zum Teufel haben wir da nur getan?'»

Konzert-Trailer zu «ABBA Voyage»

Prognose: Auch wenn das Marketing der ABBA «Voyage»-Shows natürlich schon jetzt von einem neuen «Meilenstein» sprechen muss, könnten sie genau das sein. Livebranche und Tech-orientiere Firmen suchen schon länger nach einer Mischung aus Konzert und Simulation, die sich zumindest annähernd so anfühlt, wie die Erfahrung, eine alte Heldin oder einen alten Helden in der Blüte seiner Zeit auf der Bühne zu sein. Selbst, wenn ABBA das nicht zu hundert Prozent schaffen dürften – allein die Bereitschaft, dieses Konzept umzusetzen und dermassen zu pushen, zeigt, dass viele Investor:innen und Live-Entertainment-Expert:innen an die Sache glauben.

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