Veröffentlicht am 17. August 2022

Die Parade des Müll- und Nadel-Grauens. Wirklich?

Wenn man sich die Nachberichterstattung zur Street Parade 2022 zu Gemüte führt, stellt sich Verwirrung ein: War es nun ein prächtiges und farbenfrohes Fest oder doch ein Event des Grauens mit stinkenden Müllbergen, Wildpinklern und Needle Spiking?

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Alex Flach

Alex Flach ist seit 25 Jahren Teil des Nachtlebens und hat 10 Jahre lang im Tages Anzeiger über selbiges geschrieben. Er ist Chefredaktor des Barkeeper-Magazins DRINKS Schweiz und Kommunikations-Verantwortlicher für diverse Clubs und Kulturbetriebe. Für Starzone nimmt er sich in der Kolumne Nacht&Leben das Geschehen hinter Club- und Bartüren zur Brust. (Foto: Dejana Gfeller)

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Alex Flach ist Zürcher Cluboriginal und Sprecher verschiedener Locations.

Erst einmal zum Müll, DEM Evergreen-Thema in der Berichterstattung zu Grossanlässen. Nicht nur anlässlich der Street Parade, sondern beispielsweise auch nach dem Züri Fäscht. Ja: Wenn man eine Million Menschen für 12 Stunden auf verhältnismässig engem Raum zusammenpfercht und ihnen Zugang zu alkoholischen und anderen lustig machenden Substanzen (Drogenkonsum soll hier keinesfalls verharmlost werden) gewährt, dann verabschiedet sich nicht nur das zeitgleiche Entsorgungs-Management ganz schnell in die Überforderung, sondern auch die Selbstdisziplin in die Nichtexistenz (so viel zu den Wildpinklern). Dass vor allem beim Thema Müll die Gemüter bei Schweizer*innen sehr schnell erhitzen, in einem Land also, dessen Strassen, Bürgersteige und Fassaden stets aussehen wie geleckt, ist gutbürgerlich gepflegte Tradition. Und wenn dann nach der Street Parade die Fotografen des Boulevards ausschwärmen, mit dem Auftrag das möglichst haarsträubend abzulichten, ‘was vom Tage übrigblieb’, dann ist die Skandalstory eingetütet. Nur ein Tag später wäre die Headline eine ganz andere: «Müllberge bereits beseitigt, die Strassen sehen wieder aus wie geleckt». Nur würde diese Geschichte wohl nicht so emsig aufgerufen.

«Needle Spiking ist ein internationales Phänomen.»

Alex Flach

Vor 11'000 Jahren errichteten Jäger und Sammler in der Südtürkei die ersten Tempel, die Anfänge der menschlichen Zivilisation. 11'000 Jahre später rennen Leute rum, die sich am Stechen von Nadeln in fremde Hintern aufgeilen. Das Ende der Zivilisation? Needle Spiking ist ein internationales Phänomen, erstmals aufgetaucht in Grossbritannien. Vor der Street Parade wurden in der Romandie die ersten Fälle von Needle Spiking verkündet. Wenn auch nur ein verkommenes Subjekt dieser Freizeitbeschäftigung nachgeht, dann ist dies eines zu viel. Aber hat der Horror tatsächlich die Ausmasse, wie es uns die Berichterstattung glauben machen will? Der Soziologe Marko Kovic ist da anderer Meinung, wie er in einem Interview mit nau.ch erklärt, und verbannt das Phänomen (evtl. etwas vorschnell) ins Reich der ‘sozialen Panik’. In den Kommentarspalten und auf Social Media wiederum halten sehr viele das Thema für von den Medien herbeigeredet und aufgebauscht – immerhin ist ja noch immer Saure-Gurken-Zeit. Aber auch wenn Needle Spiking tatsächlich ein Problem sein sollte, so sind acht vermutete Fälle bei fast einer Million Menschen sehr wenig (findet selbst Kriminologe Dirk Baier von der ZAHW).

Besonders Abfall-sensibilisierte und ängstliche Menschen wird das alles nicht beruhigen und erst recht nicht besänftigen. Aber vielleicht stehen viele dieser erhitzten Gemüter der Street Parade, diesem ‘ultrakommerziellen Massen-Event’ (die Street Parade wird von einem non profit-Verein organisiert, es wird kein Eintritt verlangt und Werbung auf Love Mobiles ist nach wie vor verboten) auch nur kritisch gegenüber. Ich für meinen Teil (und um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen) finde: Die Street Parade 2022 war ein prächtiges und farbenfrohes Fest. Und freue mich auf 2023, wenn alles wieder von vorne beginnt, auch die Aufregung.

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