Veröffentlicht am 16. April 2022

«Eine zukunftsfähige Musikindustrie muss klimagerecht sein»

Die Musikbranche ist alles andere als nachhaltig. Mit «The Changency» wollen Sarah Lüngen und Katrin Wipper das ändern. International bestens vernetzt, treiben die beiden Berliner Musikexpertinnen den positiven Wandel entscheidend voran.

Journalist
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The Changency Gründerinnen Sarah Lüngen Katrin Wipper

Abfallberge nach Festivals, Tourneen rund um den Globus und CO2-schädliches Musikstreaming. Musik und Klimaschutz wurden lange nicht gemeinsam gedacht. Vielleicht auch deshalb, weil sie als (meist) immaterielle Güter zu abstrakt und – bis auf den sichtbaren Müll – schwer visualisierbar sind. Das änderte sich spätestens 2019. Mit dem Slogan «No Music On A Dead Planet» rief die britische Klimabewegung «Music Declares Emergency» (MDE) den Klima-und Umweltnotfall aus. Tausende Musikschaffende unterzeichneten die Initiative öffentlichkeitswirksam, darunter Künstler:innen wie Radiohead oder Robyn. Sie appellierten an die eigene Branche, endlich ihre Verantwortung bezüglich einer emissionsneutralen Zukunft wahrzunehmen. 2020 kam die Bewegung nach Deutschland, Sarah Lüngen war eine der Initiator:innen. Durch das Ehrenamt lernte sie ihre «Changency»-Mitgründerin Katrin Wipper kennen. Zusammen mit einem grossen Netzwerk haben sie sich zum Ziel gesetzt, die Musikindustrie nachhaltiger und fairer zu gestalten.

Sarah Lüngen

Als Diplom-Biologin und Kommunikationsexpertin beschäftigt sich Sarah Lüngen seit vielen Jahren mit dem Thema Nachhaltigkeit. 2012, als sich praktisch niemand dafür interessierte, begleitete sie bereits die Nachhaltigkeitsstrategien von Festivals wie Melt! oder Splash!. Neben dem Ehrenamt bei «Music Declares Emergency» ist sie im Arbeiterkreis Nachhaltigkeit der Berlin Music Commission aktiv. Gemeinsam mit Katrin Wipper hat sie 2021 «The Changency» gegründet, eine Agentur für nachhaltigen Wandel in der Kulturbranche. Bild: © Nadine Kunath

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Sarah Luengen The Changency

Starzone Studio: Wie ist die Idee entstanden, inmitten der Pandemie eine Agentur für nachhaltigen (Kultur-)Wandel zu gründen?

Sarah Lüngen: Die Pandemie entzog der ganzen Musikbranche praktisch über Nacht die Arbeitsgrundlage. Das war sehr frustrierend. Ich wollte schnell wieder aktiv werden und habe mich, genau wie Katrin, bei «Music Declares Emergency» engagiert. Beim ersten Kennenlernen wussten wir, dass wir zusammenarbeiten und in der Branche etwas verändern wollen, denn für uns gehören Musik und Verantwortung zusammen. In einer Weiterbildung entwickelten wir für die Band Seeed ein Nachhaltigkeitskonzept, das beim Management und der Band so gut ankam, dass wir es diesen Sommer umsetzen. Das war der Startschuss für «The Changency». Und es läuft richtig gut.

Was bedeutet Nachhaltigkeit für euch?

Wir setzen Nachhaltigkeit mit Zukunftsfähigkeit gleich. Die ökologische Nachhaltigkeit ist ein wichtiger Teil davon, soziales Engagement und mentale Gesundheit gehören aber genauso dazu. Deshalb orientieren wir unser Handeln an den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen. Beim Thema Gender Equality beispielsweise hinkt die Musikindustrie ganz schön hinterher. Wenn man genauer hinschaut, wer auf Bühnen steht oder wer in Firmen an der Spitze sitzt, sind es praktisch fast immer weisse Männer. Themen wie Diversität und Inklusion sind für eine nachhaltige Transformation genauso zentral wie die ökologische Komponente. Deshalb arbeiten wir eng mit Expert:innen aus diesem Bereich zusammen und versuchen immer alle Faktoren mitzudenken.

Für Katrin Wipper und Sarah Lüngen von «The Changency» gehören Musik und Verantwortung zusammen. Bild: © Nadine Kunath  - Nadine Kunath
Für Katrin Wipper und Sarah Lüngen von «The Changency» gehören Musik und Verantwortung zusammen. Bild: © Nadine Kunath - Nadine Kunath

Die Kulturbranche erholt sich gerade von Corona. Viele haben ihre Jobs verloren oder die Industrie ganz verlassen. Jetzt kommt auch noch das Thema Nachhaltigkeit. Stösst ihr manchmal auf Widerstand?

Klar, Veränderung ist nie leicht und die Widerstände sind meist am Anfang gross. Ein Change-Prozess verlangt von allen Beteiligten viel ab. Wir sehen das pragmatisch-optimistisch, denn was wäre die Alternative? Wenn eine Firma in zehn Jahren noch existieren will, muss sie heute beginnen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Es gibt gar keine andere Option. Wir sehen gerade in der Musik enorm viel Potential. Das Thema ist höchst emotional. Wenn Billie Eilish sagt, warum sie sich vegan ernährt, hat das nun mal einen viel grösseren Impact, als wenn das Umweltbundesamt neue Massnahmen zum Klimaschutz präsentiert. Menschen, die auf Bühnen stehen, haben einen wichtigen Vorbildcharakter und können enorm viel bewegen. Wir wünschen uns mehr Ermutigung und weniger Endzeitstimmung.

2019 hat «Music Declares Emergency» den Klima-und Umweltnotfall ausgerufen. Was macht die Musikindustrie aktuell, um die Klimakatastrophe abzuwenden?

Im Live-Sektor passiert relativ viel. Durch den Leerlauf während Corona sind Nachhaltigkeitskonzepte plötzlich wie Pilze aus dem Boden geschossen. Einige der grössten Plattenfirmen der Welt haben einen Klimapakt unterzeichnet und sich verpflichtet, etwas gegen ihre Umweltbelastung zu unternehmen. Und auch der Indie-Musik-Verband «Impala» hat letztes Jahr ein Nachhaltigkeitsprogramm veröffentlicht. Am Ende geht es immer darum, in welchem Wirkungskreis man etwas verändern kann und welche Verantwortung man als Individuum und als Unternehmen übernehmen möchte.

Wie gross ist die Resonanz bei den Kulturschaffenden bisher? Wie nehmen sie eure Arbeit an?

Wir beobachten eine sehr positive Entwicklung, gerade in den letzten zwei Jahren. Neue Ideen werden unkompliziert umgesetzt und gelernte Prozesse hinterfragt und neu gedacht. Natürlich ist das bei allen individuell. Für manche ist es eine Zusatzbelastung, andere merken, dass sie ihre Prozesse dadurch sogar schlanker gestalten und Geld einsparen können. Den Satz «Ja, aber… » hören wir trotzdem mehrmals täglich. Wenn man in diesem Bereich arbeitet, darf man nicht zu empfindlich reagieren.

«Es macht Sinn, das Wissen zu bündeln und die Probleme gemeinsam anzugehen.»

Sarah Lüngen
Und wie sieht eure tägliche Arbeit aus?

Unser Alltag besteht einerseits aus konkreten Projekten in Form von Strategien und Konzepten mit klaren Massnahmen, andererseits organisieren wir Workshops im B2B-Bereich und arbeiten parallel an diversen Förderprojekten. Wir arbeiten mit Künstler:innen, Festivals, Managements, Theater und Orchester bis hin zu Labels und Vertrieben. Wir wissen alle, dass wir einen systemischen Wandel brauchen. Deshalb macht es nur Sinn, die einzelnen Teilbereiche der Musikindustrie an einen Tisch zu bringen.

Das klingt nach einer grossen Herausforderung, oder?

Die Musikindustrie ist oft eine Ellenbogengesellschaft, wo Wissen nur ungern geteilt wird. Die Nachhaltigkeits-Bubble ist total anders. Die Leute haben verstanden, dass wir alle im selben Boot sitzen und wir für das gleiche Ziel kämpfen. Denn wenn wir keine lebenswerte Umgebung mehr haben, dann geht uns das alle etwas an – egal ob Politiker:in, Künstler:in oder Techniker:in. Da macht es nur Sinn, das Wissen zu bündeln und die Probleme gemeinsam anzugehen.

Wo liegt das grösste Hindernis für einen nachhaltigen Wandel?

Im Bereich Musik und Nachhaltigkeit fehlen bis auf ein paar wenige Studien verlässliche Daten. Das muss sich unbedingt ändern. Denn die grösste Herausforderung liegt in der Komplexität der Zusammenhänge. Man kann nicht überall gleichzeitig Dinge verändern. In allen Bereichen gibt es andere Wirkungskreise. Um diese richtig zu sortieren brauchen wir die Zahlen. Ausserdem muss die Industrie erkennen, dass jedes Unternehmen Nachhaltigkeitsmanager:innen braucht, und zwar in Vollzeit und nicht als Hobby nebenbei. Katrin nennt gerne das Beispiel der Social Media Manager:innen, die früher als nicht relevant erachtet wurden und heute unverzichtbar sind.

Wie sähe die «Changency»-Utopie für die Musikbranche in zehn Jahren aus?

Im besten Fall braucht es uns dann gar nicht mehr, weil in jedem Team Nachhaltigkeitsmanager:innen arbeiten und der Industrie-Standard mit den SDGs konform ist. In zehn Jahren hat sich hoffentlich ein «New Normal» etabliert, wo Festivals und Konzerte ohne negativen Impact für die Umwelt und die Gesellschaft stattfinden können. Es gibt nicht mehr so viele «Ja, aber’s…», dafür eine Offenheit, Dinge auszuprobieren und anders zu machen. Wir brauchen keine Frauenquote mehr und es findet eine tatsächliche Inklusion statt. Und ganz wichtig: es geschieht gemeinschaftlich. Keine Schönheitskorrekturen, sondern einen wirklichen Wandel, das wünsche ich mir.

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