Veröffentlicht am 28. September 2022

Nacht&Leben – Das kollektive Besäufnis

Die kulturelle Aneignung ist in aller Munde und viele, die wegen der Aufregung um Dreadlocks die Stirn runzeln, denken wohl insgeheim und mit einer gesunden Portion Ironie, dass man doch diesbezüglich erst einmal etwas wegen des Oktoberfests unternehmen sollte.

Alex Flach

Alex Flach ist seit 25 Jahren Teil des Nachtlebens und hat 10 Jahre lang im Tages Anzeiger über selbiges geschrieben. Er ist Chefredaktor des Barkeeper-Magazins DRINKS Schweiz und Kommunikations-Verantwortlicher für diverse Clubs und Kulturbetriebe. Für Starzone nimmt er sich in der Kolumne Nacht&Leben das Geschehen hinter Club- und Bartüren zur Brust. (Foto: Dejana Gfeller)

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Alex Flach ist Zürcher Cluboriginal und Sprecher verschiedener Locations.

Wenn man jemanden fragt, was am Oktoberfest gefeiert wird, ist das Maximum an gehaltvoller Auskunft ein gestammeltes «ähm... der Oktober?». Das gilt nicht nur für die Lederhosen-Kerls und Dirndl-Madel in den Bierzelten hierzulande, sondern auch für viele in München. Tatsächlich ist der Ursprung des Oktoberfests eine Hochzeitsfeier und zwar jene zwischen Kronprinz Ludwig von Bayern und Prinzessin Therese im Jahre 1810. Im Rahmen dieser Feierlichkeiten fand am 17. Oktober ein Pferderennen mit 40'000 Zuschauern statt, das als eigentliche Keimzelle des Oktoberfests gilt. Der Festplatz zum Galopp befand sich damals auf der Theresienhöhe und bevor das Rennen begann, wurde dem Königspaar mit einem Umzug und Kinderchören gehuldigt.

Nun… wenn wir rebellischen und adelsfeindlichen Schweizer*innen, wir stolze Nachfahren des imaginären Willhelm Tells Oktoberfest feiern, dann huldigen wir damit also just jenen, die er bekämpft hat – Gesslers Chefetage, sozusagen. Auch wenn zu Tells Zeiten natürlich keine Bayern, sondern mit Vorliebe Österreicher bekämpft wurden, deren Aargauer Stammhaus heute noch besichtigt werden kann: Die Habsburger. Immerhin.

Das Oktoberfest in München: Jedes Jahr ä Gaudi!
Das Oktoberfest in München: Jedes Jahr ä Gaudi!

Somit: Niemand hier in der Schweiz kann behaupten, er möge das Oktoberfest wegen seiner Tradition, weil die ist definitiv aristokratisch. Und was die Kultur anbelangt… Hand aufs Herz: Kann irgendjemand hier von sich behaupten, er müsse sich diese Hossa-Mucke nicht erst schönsaufen?

Womit wir bei des Pudels Kern sind, und den haben auch die Simpsons um Homer und Marge eruiert und zwar mehrfach: Nicht ums Schönsaufen, sondern ums schön Saufen. Das aber richtig: 2019 wurden am Münchner Oktoberfest 7,3 Millionen Mass (1 Liter) ausgeschenkt. Bei einer Besucherzahl von 6,4 Millionen (Angaben von statista.com). Das klingt nach gar nicht so viel, aber zieht man alle Kinder und anderen ab, die nicht trinken… Ob an einem Schweizer Oktoberfest jemals die 1901 von den Herren I. und M. Hager 10 Mass pro Kopf erreicht wurden, ist leider nicht bekannt. Damals gab’s dafür sogar noch ein Diplom und zwar von der Bierbude Lang.

«Für Schweizerinnen und Schweizer, ist es einfach nur ein Vorwand um sich in Gesellschaft zu betrinken.»

Alex Flach

Fazit: Nur Münchnerinnen und Münchner können behaupten, sie würden der Tradition und der Kultur wegen ans Oktoberfest gehen. Für Schweizerinnen und Schweizer, ist es einfach nur ein Vorwand um sich in Gesellschaft zu betrinken. Wer denn einen braucht… die Menschen in Finnland pflegen da einen relaxteren Ansatz und haben dafür das Wort ‘Kalskarikännit’. Das bedeutet nichts anderes als ‘sich zuhause alleine in Unterhosen’ betrinken. So muss man auch nächstentags nicht für peinliche Auftritte bei allen Liebsten oder gar Bürokollegen und -kolleginnen entschuldigen («Sorry, aber Frau Mosers Drindl war aber auch verdammt tief ausgeschnitten…»).

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