Veröffentlicht am 19. November 2022

Gianna Nannini und die raue Seite des Italo-Pop

Pop-Songs aus Italien riechen nach Sonnencreme, schmecken nach Gelato und lassen die Haut glühen. Da hat man das Meer ganz «Azzurro» vor Augen, die «Cose Della Vita» sind so flüchtig. In den Achtzigern rauschte eine Reibeisenstimme aus Siena in die Popwelt und rüttelte das musikalische Dolce Far Niente mal so richtig durch: Über die wichtige Rolle der Gianna Nannini.

Lasciatemi cantare! Lasst mich singen! Toto Cutugno behandelt im Hit «L’Italiano» aus dem Jahre 1983 italienische Stereotype von der Bialetti bis zum Fiat. Hach ja, das Dolce Vita... Ein Forever Feriengefühl aus heiteren Tönen, bei dem man nicht anders kann als tänzeln und vergnügt grölend den Spritz zur gleissenden Sonne strecken. Dabei nutzt man in Italien selber den Begriff Italo-Pop gar nicht – musica leggera sagt man da. Leichte Musik also. Durchaus. Könnte man meinen. «Düsteres und Komplexes wird nicht ausgeklammert, aber man verpackt das in leichte Gesten», weiss Musikjournalist Eric Pfeil, der den musikalischen Reiseführer «Azzurro» geschrieben hat. Das heisst also, auch im melodiösen Italo-Pop darf es mal tief gehen. Und im ersten Moment denkt man da wieder nur an die Männer. Domenico Modguno, Luigi Tenco, Adriano Celentano, Paolo Conte, irgendwann Eros Ramazotti.

Aber was wäre eine musica leggera, die so leichtsinnig daherkommt, ohne Skandale? Dazu braucht es Witz. Und Charme. Und Frauen. Im erzkatholischen Italien schockten Cantautrici (Singer-Songwriterinnen) durch das Besingen sexueller Selbstermächtigung. Vorbild vieler Italienerinnen wurde da in den Sechzigern etwa Mina: mit einer Stimme, die drei Oktaven umfasste, schmetterte sie «Il cielo in una stanza» – eine Ode an das postkoitale High. Zwanzig Jahre später bretterte dann endlich Gianna Nannini in die Charts. Und brauchte etwas Anlauf in der Heimat. «In Italien war das Verhältnis zu mir lange Zeit ziemlich extrem. Ich polarisierte, weil ich für viele Italiener irgendwie keine richtige Frau bin. Eine Frau gehört für viele ins Haus, soll ihre Arbeit machen und den Mund halten. Ich bin genau das Gegenteil, davor hatten viele Angst», so die heute 68-Jährige.

Mit dem Dildo in die Freiheit

So schrieb die Frau mit der rauen Stimme zwei Alben und brachte 1979 mit «California» das erste erfolgreiche heraus. Der Inhalt: feministisch und provozierend. Das Cover zeigt die Freiheitsstatue mit Vibrator statt Fackel in der Hand, der Song «America» gilt als Masturbationshymne. «Damals war so etwas noch undenkbar, aber ich liebe es, Grenzen zu überschreiten», so Gianna Nannini rückblickend. So darf der internationale Hit «Bello e impossibile» aus dem Jahre 1986 auch als frühes Outing gelesen werden. Aus Stücken wie «I maschi» und «Latin Lover» wabert deutliche Ironie gegenüber dem männlichen Geschlecht. Nannini entsprach also bewusst nicht den Vorstellungen, wie ein weiblicher Popstar Italiens der Achtziger auszusehen und sich zu verhalten hatte.

Angepasst hat sie sich nie. Sie bezeichnet sich selbst als pansexuell, wurde mit unglaublichen 54 Jahren zum ersten Mal schwanger – nach eigenen Aussagen auf natürliche Weise – und lebt heute mit ihrer Tochter und ihrer Partnerin in London. Anfang des Jahres kandidierte sie offiziell für das Amt der Staatspräsidentin der Republik Italien. Nun ist sie mit dem 2019 erschienenen Album «La Differenza» auf Tour. Gewohnt laut und kratzig. Wer sich also anhand Gianna Nanninis alter und neuer Hits davon überzeugen will, dass Italo-Pop so gar nicht süss sein muss, der bestellt sich jetzt einen Campari und kauft Billets:

Am 01. Dezember 2022 spielt sie im Zürcher Hallenstadion:
Tickets gibts
HIER
Am 02. Dezember 2022 im Théâtre du Léman in Genf:
Tickets gibts
HIER

Gefällt dir der Artikel?